Kein "Land gegen Frieden" in Judäa und Samaria

■ Mehr als 110.000 jüdische Israeli leben in den Siedlungen der Westbank und im Gaza-Streifen. Sie wollen nicht einer Friedenslösung weichen. Die besetzten Gebiete sind "ihr Land"...

Schon von weit her ist Beit Horin zu erkennen. Gleich einer mittelalterlichen Burg schraubt sich die kleine Siedlung auf die Spitze eines kahlen Bergkegels. Die Landschaft wirkt rauh, aber faszinierend. Kaum Bäume; Steine, unendliche Mengen Steine liegen auf den Böden und lassen Ackerbau zu einem mühseligen, ja unmöglichen Geschäft werden. Jetzt im Winter ist die Landschaft von einer dünnen grünen Decke aus Gräsern bedeckt. Im Sommer ist sie wie Wüste. An klaren Tagen kann man von hier aus das Meer am Horizont sehen. Wer will hier wohnen?

Einige hundert jüdische Israelis wollen. Sie haben Beit Horin der Wüste abgetrotzt und schützen es mit einem hohen Zaun vor feindlichen Eindringlingen. Ein eisernes Tor und der daneben befindliche Wachposten sichern die einzige Zufahrtsstraße der Siedlung. Tagsüber steht das Tor offen, nachts wird es fest verschlossen. Vom Tor aus führt die Straße steil nach oben, vorbei am Kindergarten, den mit Jerusalemer Naturstein verkleideten Wohnhäusern. Dann müssen wir umkehren, denn der Weg endet am Zaun in einer Sackgasse. Die Lage des Orts ergibt sich aus militärstrategischen Gründen. Denn Beit Horin liegt in der seit 1967 besetzten Westbank und ist eine jüdische Siedlung. Zur Zeit gibt es 142 Beit Horins im Gaza-Streifen und in der Westbank.

Sprachkorrekturen der jüdischen Bewohner

Westbank, Siedlungen, Siedler — alles falsch. „Das Wort Siedlungen benutzen wir eigentlich nicht gerne“, erklärt eine weibliche Stimme schon am Telefon. Sie gehört zum Rat der jüdischen Gemeinschaften in Judäa, Samaria und Gaza, der Dachorganisation aller jüdisch-israelischen Siedlungen. „Also, wir nennen sie Gemeinschaften“, sagt die Stimme vom Rat der Gemeinschaften. Die Westbank heißt in Isarel allgemein „die Gebiete“, das dazugehörige Adjektiv „besetzt“ ist in der vergangenen 24 Jahren irgendwie verlorengegangen. Was kein Wunder ist, merkt man doch schon lange nicht mehr, ob man sich in den „Gebieten“ oder in Israel befindet. Die Siedler, pardon: die jüdischen Bewohner nennen die „Gebiete“ lieber beim biblischen Namen Judäa und Samaria. Also: Es gibt keine Siedler. Es gibt keine besetzten Gebiete.

Dafür zum Beispiel Givat Zeev, 1.700 Familien und 6.850 Einwohner. Tommy Lavie, der Anfang der siebziger Jahre mit seinen Eltern aus Lateinamerika nach Israel eingewandert ist, zeigt mir stolz seine neue Heimatstadt, etwa 20 Minuten Autofahrt von Jerusalem entfernt in Richtung Ramallah. Er erzählt belustigt von einem dänischen Journalisten, der geglaubt habe, die „Gemeinschaften“ bestünden aus einem Haufen zugiger Zelte. Givat Zeev hat in der Tat nichts Provisorisches an sich. Einzig einige „mobil homes“, fahrbare Barackenhäuser, könnten diesen Eindruck vermitteln. Doch dort wohnen nicht etwa Siedler, sondern dorthin wurde ein Teil der Stadtverwaltung ausquartiert, weil das Rathaus zu klein geworden ist. Statt Zelten stehen in Givat Zeev hübsche zweigeschossige Wohnhäuser, oft mit einem kleinen Vorgarten. Es gibt eine kleine Ladenzeile mit Supermarkt und Restaurant. Vorhanden sind auch drei Schulen, ein Swimmingpool und eine Polizeistation. Und das Tor am Eingang der Siedlung. Keine zwanzig Schritte davor steht ein arabisches Haus. Ein paar Berge entfernt sieht man arabische Dörfer. Die Minarette der Moscheen grüßen schon von weitem. Und dazwischen liegen „Gemeinschaften“. Die Straßen sind neu und gut ausgebaut. Sie beseitigen die „Probleme“, von denen hin und wieder die Rede ist. Auf dem Weg nach Beit Horin erklärt Tommy Lavie eines davon. „Hier gab es ein Problem, weil die Straße an zwei arabischen Dörfern vorbeiging. Jetzt haben wir eine neue Straße.“ Das „Problem“ ist verschwunden, aber es gibt noch genügend andere für die Zukunft: „Die Straße nach links“, erklärt Lavie auf dem Rückweg nach Jerusalem, „die bin ich bestimmt seit mehr als drei Jahren nicht mehr gefahren. Sie geht Richtung Ramallah. Sie ist zu gefährlich.“ Gefährlich heißt: zu viele arabische Dörfer am Straßenrand.

Eines der letzten Opfer unter den Siedlern hieß Zwi Klein. Der 44jährige Familienvater wurde am 3.Dezember während einer Autofahrt von einer Kugel in den Kopf getroffen. Gegen die Steine der Intifada haben die Siedler — ebenso wie die Busgesellschaft Egged — Plastikscheiben eingebaut. Gegen Schüsse bieten sie keinen Schutz. Fast täglich gibt es neue Berichte von Schüssen auf israelische Fahrzeuge mit den gelben Kennzeichen in „Judäa und Samaria“. Nach dem Attentat auf Zwi Klein verfügte das Militär in der Region Ramallah eine zehntägige, unbeschränkte Ausgangssperre gegen alle arabischen Bewohner — rund 100.000 Menschen. Der Täter wurde nicht gefunden. Seit Mitte Dezember ist allen arabischen Bewohnern der Westbank das Spazierengehen außerhalb von Ortschaften bei Dunkelheit verboten. Diese Kollektivstrafe wurde verhängt, weil die meisten Anschläge nachts auf freiem Feld verübt werden. Die Maßnahme gilt „bis auf weiteres“.

Es regnet, also fliegen keine Steine

Die Siedler verlangen schärfere Maßnahmen gegen „die Terroristen“. Am vierten Jahrestag der Intifada kleben einige von ihnen Flugblätter auf die Schaufensterscheiben im von der Ausgangssperre leeren Ramallah. „Warnung“ steht darauf, und weiter: „An die Bewohner von Ramallah und el-Bireh. Nach dem jüngsten schweren Zwischenfall werden die jüdischen Bewohner nicht schweigen! Wir wissen, was zu tun ist. Jüdisches Blut wird keines fließen.“ Dazu hinterließen sie einige zerstochene Reifen der Autos von Palästinensern. Bisher beschränkten sich Anschläge gegen jüdische Siedler auf Gebiete außerhalb der Ortschaften. Eine der streng bewachten und meist mit einem Gitterzaun gesicherten Siedlungen ist noch nicht Ziel der Intifada geworden. Wenn doch? „Das würde Krieg bedeuten“, sagt Tommy Lavie.

Ein Flugblatt des Rats der jüdischen Gemeinschaften in Judäa und Samaria läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: „Was haben Terroristen auf einer ,Friedens‘-Konferenz zu suchen?“ fragt es diabolisch. „Natürlich sind wir gegen Land gegen Frieden“, meint Avigail Frij, die beim „Rat der Gemeinschaften“ für Kontakte mit der Presse zuständig ist. „Kennen Sie vielleicht irgendwelche Araber, die gewillt sind, Land gegen Frieden einzutauschen?“ Die besetzten Gebiete zählen für die zierliche junge Frau ganz selbstverständlich zu Israel. „1967 wurden wir angegriffen. Jedes Land, das ein anderes Land überfällt, sollte wissen, daß, wenn es den Krieg verliert, es auch Gebiete verlieren wird. Das ist seit Tausenden von Jahren so.“ Tommy Lavie setzt noch eines drauf: „Die Gebiete hätten schon am 14.Juni 1967 ein Teil Israels werden sollen. Sie [gemeint sind die Araber, K.H.] haben 22 Nationen. Es geht um ein Gebiet, das vielleicht so groß wie Frankfurt ist.“

Doch bei der Begründung für den israelischen Anspruch auf „Judäa, Samaria und Gaza“ verheddert sich Frij. Denn einerseits, so argumentiert sie, seien die besetzten Gebiete Teil des historischen Israel, und deshalb habe man darauf keinen Anspruch. Andererseits bemüht sie Karten und zeichnet Entfernungen, um die strategische Notwendigkeit des Besitzes zu begründen. „Wissen Sie, wie schmal die engste Stelle Israels vor 1967 war?“ — und sie gibt gleich die Antwort: „Neun Meilen.“ „Unsere strategische Position ist sehr wichtig. Wenn sie uns heute angreifen wollen, dan müssen sie aus der Hitze des Jordan-Tals die Berge besteigen.“ Wozu braucht es dieser Argumente, wenn der Anspruch doch ohnehin historisch verbürgt und begründet ist? Das Ostufer des Jordans immerhin, Jordanien also, ist frei von Siedlungswünschen, obwohl — historisch betrachtet — auch dort Ansprüche bestehen könnten. Außer: „Wenn wir von Jordanien angegriffen werden und Jordanien den Krieg verliert, dann werden wir weitere Gebiete übernehmen.“

Doch, einmal gab es ja „Land gegen Frieden“. Beim Camp-David- Abkommen zwischen Israel und Ägypten verzichtete Jerusalem auf die 1967 besetzte Sinai-Halbinsel. Jüdische Siedlungen wurden, gegen den Widerstand ihrer Bewohner, geräumt. „Wir hatten nie einen historischen Anspruch auf den Sinai gelegt“, so Avigail Frij. „Ich unterstütze die damalige Regierungsentscheidung. Wir haben territoriale Kompromisse gemacht. Für weitere Gebiete gibt es keine Rechtfertigung.“

Es regnet in Strömen. „Bei dem Wetter gibt es keine Steinwürfe und Schüsse“, meint ein Bekannter. Der Bus Nummer 160 fährt von Jerusalem nach Kiryat Arba. Eine Scheibe ist offenbar schon einmal von einem Stein getroffen worden. Die Hälfte der Fahrzeuginsassen sind Soldaten. Kiryat Arba ist eine der ältesten jüdischen Siedlungen, nahe der palästinensischen Stadt Hebron gelegen, und für die Siedler ein Symbol. In Kiryat Arba leben heute etwa 6.200 Menschen. Es gibt eine Bank, ein Lebensmittelgeschäft und zwei Cafés. Bürgerwehr patrouilliert durch die Straßen. Hier sind die Schranken am Eingang der Siedlung auch tagsüber geschlossen. Jenseits der Umzäunung sind neue Häuser im Bau.

Arbeit gibt es kaum. Nahezu alle Siedlungen in der Westbank sind reine Schlafstädte geblieben, von denen aus man zur Arbeit täglich bis Jerusalem oder Tel Aviv fahren muß. Für die Siedler ist der bisweilen lange Weg zur Arbeit allerdings kein Argument. „Andere Leute wohnen in Haifa und arbeiten in Tel Aviv. Es macht nicht zu viele Umstände, täglich nach Jerusalem zu fahren“, meint ein Bewohner. Viele Siedlungen liegen zudem relativ dicht bei Jerusalem. Nach den durchaus glaubwürdigen Statistiken der Siedler leben inzwischen mehr als 110.000 jüdische Israelis in der Westbank und im Gaza-Streifen. Damit wären allein im vergangenen Jahr rund 20.000 jüdische Israelis mehr in den Gaza-Streifen und die Westbank gezogen. Nicht berechnet sind dabei diejenigen Bewohner Jerusalems, die in den neuen Stadtteilen jenseits der „grüne Linie“, die die alte Grenze zu Jordanien markiert, leben. In Ramot, Gilo, Neve Jakow, French Hill und in anderen Stadtteilen wohnen mehrere zehntausend Israelis. Siebzig jüdisch-israelische Bewohner leben gar im arabischen Teil der Altstadt.

Es sind keineswegs alles überzeugte Siedler, die in den Siedlungen leben. „In Tel Aviv hatte ich eine kleine Wohnung, hier aber ein Haus“, ist eine stehende Redewendung. Siedeln ist dank der Hilfen der Regierung eine preiswerte Alternative zum Leben innerhalb der „grünen Linie“. Vor allem junge Familien machen davon gerne und ohne jeglichen ideologischen Hintergrund Gebrauch. Und auch die jüdischen Israelis, die aus mehr oder weniger ideologischer Begründung heraus in die Westbank ziehen, sind keineswegs alle rechtsradikalen oder rechten Parteien zuzuordnen. Es gibt auch Sozialdemokraten unter ihnen. Schließlich stammt das erste Siedlungsprogramm noch aus der Feder der Arbeits-Partei. Auch Givat Zeev hat einen sozialdemokratischen Bürgermeister.

Der 41jährige Tommy Lavie ist nicht „einfach so“ in die „Gebiete“ gezogen. Er wollte etwas für sein Land tun, wie er selbst sagt, und nicht einfach irgendwo eine Wohnung beziehen. Dann las er ein Buch über die strategische Bedeutung von Straßen in der Westbank. Und so zog er nach Givat Zeev, ganz nahe an einer wichtigen Straßenkreuzung, die die im Jahre 1982 gegründete Siedlung schützen soll. Umständlich findet Lavie sein Leben überhaupt nicht. Es ist eine Aufgabe. Er zeigt auf die umliegenden Ländereien seiner Gemeinde: „Arabisches Land. Wir rühren es nicht an.“ Früher haben die Siedler manchen Palästinensern ihr Land abgekauft. Seit Beginn der Intifada verkauft keiner mehr. „Wir besiedeln nur Staatsland, ganz legal.“ Doch dieses Staatsland, das heute Israel kontrolliert, war früher jordanisch. Der größte Teil davon wurde als Gemeindeland über Pachtverträge von den einheimischen Palästinensern genutzt. Es ist nicht ihr Boden. Aber sie haben auf ihm gelebt.

Etwas tun fürs Land: Mobilheime im Schlamm

Wenn „Judäa und Samaria“, wie die Siedler es sich wünschen, tatsächlich zum integralen Bestandteil des Staates Israel werden sollte, was geschähe dann mit den Palästinensern? Wohl nur eine sehr kleine Minderheit propagiert offen deren Ausweisung, so wie etwa die Kaach-Bewegung des in New York ermordeten Meir Kahane. „Ich habe nichts dagegen, wenn Araber in meiner Nähe leben“, meint Avigail Frij. „In Israel selbst leben Araber und Juden friedlich zusammen. Warum sollte das bei uns nicht möglich sein?“ Man weiß nicht genau, ob sie wirklich diese Hoffnung hat. Kein friedvolles Zusammenleben gebe es jedenfalls mit den „Terroristen“. Und verhandeln, ja verhandeln könne man viel, dagegen habe sie gar nichts. Aber nicht mit der PLO. Und Syrien wolle den Frieden ohnehin nicht.

Am 26. Oktober wurden Yitzak Rofe und Rahel Druk bei einem Anschlag auf einen Bus getötet. Ihr Fahrzeug war unterwegs zur Demonstration „Frieden für Frieden“, mit der die Siedler gegen „Frieden gegen Land“ und die Nahostkonferenz in Madrid protestierten. Am Ort des Attentats haben sie drei mobile Häuser aufgebaut. Hier soll eine Siedlung entstehen. Rahelin wird sie heißen, nach dem Vornamen der toten Frau Druk. Sie wollen bleiben. Auf dem Weg von Kuryat Arba nach Jerusalem passiert der Bus eine neue Siedlung. Rund 70 numerierte mobile Häuser stehen im Schlamm. Vier Fenster, eine Tür, etwa 30 Quadratmeter groß. Wer will hier wohnen? In Silvan, einem arabischen Stadtteil Jersualems, haben Siedler Mitte Dezember sechs Häuser besetzt, die arabischen Bewohner zum Teil vertrieben. Das Regierungskabinett hatte die Sache genehmigt. Am Tag der Besetzung fragte ein Polizist den Jeshiwa-Studenten Yaacov Idles verwundert: „Willst du wirklich an so einem gefährlichen Platz wohnen?“ Die Antwort des 22jährigen: „Ich wollte schon immer in meinem Leben so etwas tun. Dieser Platz ist das Herz Israels, und wir haben ein Recht, hier zu leben. Ich bin gewillt, mein Leben für Dinge, die für die Menschen Israels wichtig sind, in Gefahr zu bringen.“