Mauerprozeß: Recht, Moral und letzte Zweifel

Während die Nebenklägerin einen „wirkungsvollen Schuldspruch“ fordert, verlangen die Verteidiger Freispruch  ■ Aus Berlin Götz Aly

Im Prozeß um den Tod ihres Sohnes Chris lehnte die Nebenklägerin Karin Gueffroy gestern die von der Staatsanwaltschaft am Montag beantragten Bewährungsstrafen ab. Statt dessen verlangte die Mutter des letzten Maueropfers einen „wirkungsvollen Schuldspruch“. Sie sei zwar auch nicht für lange Haftstrafen, auch wolle sie „keine Rache, sondern Gerechtigkeit“ — aber es erscheine ihr als „kollektive Entlastung“, wenn die Strafen zur Bewährung ausgesetzt würden. Die Angeklagten würden solche Urteile als De-facto- Freisprüche empfinden.

In ihrem sehr persönlich, aber auch sorgfältig formulierten Schlußwort zeigte sich die Nebenklägerin zwar zufrieden darüber, daß die Schuldigen trotz aller Vertuschungsmanöver gefunden und schließlich vor Gericht gestellt worden seien, dort aber sei „die Chance, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, vertan worden“. Sie könne nicht verstehen, daß das Gericht sich mehr mit juristischen Streitereien beschäftigt habe als mit der genaueren Klärung des Sachverhalts. „Hilflosigkeit und Ohnmacht“ deutscher Gerichte bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zeige sich auch in der Art und Weise, wie sie den früheren Machthabern der DDR begegneten. Die Mehrheit der Politbüromitglieder sei auf freiem Fuß und werde es wohl auch bleiben.

Zur persönlichen Schuld der Angeklagten sagte Karin Gueffroy, diese hätten ihren Sohn „völlig gedanken- und gewissenlos erschossen“. Sie wertete die Ereignisse in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 als „bewußt herbeigeführten Mord“ an ihrem Kind. Die Angeklagten hätten vor Gericht eine „fast sklavische Hörigkeit“ gegenüber ihren Befehlsgebern geltend gemacht und im Gerichtssaal ein erschütterndes Ausmaß an „Unwilligkeit und Bequemlichkeit“ an den Tag gelegt. Ihre Unmündigkeit sei aber selbstverschuldet. Ihnen hätte die Brüchigkeit des damaligen Systems bewußt sein müssen. Und rhetorisch fragte Karin Gueffroy: „Ob die Angeklagten wohl auch Reue bekundet hätten, wenn es keine Wende in der DDR gegeben hätte?!“

Demgegenüber plädierten vier der Verteidiger — weitere Plädoyers folgen am kommenden Montag — durchweg auf Freispruch. Rechtsanwalt Hubert Dreyling hob dabei hervor, „die Flüchtenden haben eben auch in doppelter Weise mit ihrem Leben gespielt: Sie gingen völlig unbegründet davon aus, daß nicht geschossen werde und brachen die Flucht nicht ab, nachdem sie entdeckt worden war.“ Das sei selbstverständlich nur ein Nebenaspekt. Der Freispruch sei vielmehr aus rechtlichen Gründen zwingend geboten, weil das DDR-Grenzgesetz gültig war und die Schüsse der Angeklagten deckte, weil die Schützen kein Unrechtsbewußtsein und keine tatsächliche und rechtliche Möglichkeit zur Befehlsverweigerung gehabt hätten. Da wichtige Details des unmittelbaren Tatgeschehens nicht aufgeklärt werden konnten, „muß“, so sagte es der Verteidiger Johannes Eisenberg, „der Satz ,im Zweifel für den Angeklagten‘ angewendet werden.“ Der Satz „im Zweifel für das Opfer“ sei zwar moralisch plausibel, aber unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten falsch.