Affig aufschnäbelndes Peinigungsgerät

Fritz J. Raddatz' Romantrilogie am Ende: „Die Abtreibung“  ■ Von Martin Halter

Will die Not kein Ende nehmen? „Bernd war die deutsche Not“, und sie wurde dem Vernehmen nach — der Prophet gilt nichts im Vaterland — nur in Paris ansatzweise gewürdigt. In Kuhauge (1984), dem ersten Band der Trilogie des halb autobiographischen Wiedersehens mit Fritz „Jott“ Raddatz, gongte und explodierte, matschte und blitzte es dermaßen in Bernds spätexpressionistisch „versoßtem Gehirn“ — einer Gegend, die erklärtermaßen „mit dem Gerümpel der Dingwelt versperrt“ ist und dennoch „geil sein kann“ —, daß den Kollegen des schreibenden Literaturkritikers nur noch übrigblieb, ihre Blätter (wie die von Raddatz' Zimmerpflanzen) „zu einem höhnischen Grinsen zu falten“. Im Wolkentrinker (1987) stiegen dann schon „Rauchringe aus ranzigem Begehren und abgestandenem Vorwurf“ gen Himmel. Raddatz, in seiner „jiepernden erigierten Gier“ bald die „Fahne tollgewordener Not“ hissend, bald die „Metall- Porzellan-scheppernde Fahne offenbarer Eifersucht“ einziehend, bog sich damals — er war gerade in den fünfziger Jahren angelangt und noch immer irgendwie links — Homo-, Bi- und Hetero-„Sexualität und Marxismus zu seiner Lebensbrücke zusammen“, obwohl die Tatsache, daß es in den DDR-Zügen nach vermufften Auberginen roch, schon Zweifel an ihrer Tragfähigkeit aufkommen ließen. Ständig „einen Zacken zu kregel“, floh Bernd, „Ratte“, „Eichhörnchen“ und gelernter Archäologe, schließlich in den Westen, allwo nun der dritte und offenbar letzte Selbstentblößungsroman des rasenden Kulturreporters kurz nach dem Mauerbau sein abruptes Ende findet.

Allzeit kregel und hurtig, aber vom eigenen Tempo nun doch auch sichtlich mitgenommen, reißt FJR die Schlußetappe von Bernds Tour de force eher lustlos und matt herunter. Einerseits macht sein Alter ego nun endlich Karriere als Zeitschriften- und Fernsehredakteur, was Gelegenheit zu bescheidenen Omnipotenzphantasien gibt: Jede Sendung, jeder Artikel, und ginge es auch nur um aufgewärmte archäologische Petitessen, schlägt im Adenauerschen Wirtschaftswunderland wie eine Bombe ein, so daß Bernds Ruhm sich schnell um den Erdball verbreitet und selbst die CIA sich mächtig für den versnobten Schwulen zu interessieren beginnt. Andererseits scheint der Held aber auch an einem toten Punkt angelangt zu sein: immer nur Kaviar und Schampus auf den Parties der Kulturschickeria oder „Bei Bubi“ in St. Pauli, Schmeichelworte von und Affären mit kultivierten Männ- und Weiblein, und dann dieser Small talk, gerade so sophisticated und verschmockt wie Bernds Wohnungs- und Seelen-Interieur: Das kann doch nicht alles gewesen sein?

Ist es aber doch. Raddatz' Zeitroman liest sich, von den gewohnten Manierismen, den alpinistischen Paradoxa („Bernd streichelte Eis, ihn feuchtend, ganz hart, unerreichbare Gletscher, die zu bezwingen seine Begehrlichkeit steil entfesselte. Er löschte brennenden Schnee“) und von der galoppierenden Metaphernsucht einmal abgesehen, diesmal über weite Strecken wie Auszüge aus 'Schöner Wohnen‘-Katalogen („...der Knoll-Nachbau eines Mies- van-der-Rohe-Entwurfs... Schräg gegen die weiße Lederbahre das rote Sofa von Jean Michel Frank... Dem gegenüber wie ein Peinigungsgerät ein hölzerner Gerrit-Rietveld- Stuhl“) oder aus seinen journalistischen Frühwerken; besonders gelungene Artikel werden schon mal über acht Seiten hinweg referiert. Was Raddatz der Epoche nicht ohne Emphase vorwirft, wiederholt er unge- und -unterbrochen in seinem erzählerischen Gestus: Dekoration statt Inspiration, geschminkte Grimassen statt Gesichter, flotte Bonmots und „Wissensgegockel“ statt Reflexion.

Kein Wunder, daß der 13. August 1961, als Peripetie des Lebensdramas gedacht, in dem affektierten Schmus einer „achtlosen Weltmännischkeit“ untergeht. Daß Bernd als Fluchthelfer seinen alten Freund Stephan aus der vermufften Auberginen-Zone holt, ist moralisch eine Pflichtübung, die sein — vom Luxus unkorrumpiertes — schlechtes Gewissen besänftigen soll, und literarisch eine unergiebige Episode. Aber Politik gehört nun einmal zum Meublement des exklusiven Boudoirs: „Letzte Nacht, die Aprikosenhaut schien Bernds Zunge süß und salzig zugleich, rasterte die Masturbationstür zu einem Gitter, durch das er einen nackten Käthe auf seiner hachlichen Gefängnisdecke liegen sah. Ostwestentsetzen steifte ihn zu immer brutaleren Stößen. Sein Politfick ließ Larissa aufstöhnen... Je richtungsloser seine Kompaßnadel zitterte, desto spitzer wurde er.“ „Ich streichle deine Kämpfe“, vertraut er dem jüdischen Kommunisten an.

Gegen Ende hin zerbläht, vertaumelt und explodiert der Bildungsroman vollends in seinem süß-sauren Kitsch. Die Zeit- und Sittenschilderung, ohnehin nicht sehr zuverlässig, wird immer dünner („Rosa Cadillac war passé, jetzt fuhr man weißen Jaguar“); „klatschend plustert“ sich der Autor auf wie die korsischen Leinensegel im Abendwind oder die „affig ihr schummriges Licht aufschnäbelnde Lampe“. Auf Sylt, „im zirpenden Messerschleifen des Schilfs hören sie ihr sirrendes Begehren“, schwarze Schnäbel schlitzen die Seide des Horizonts. „Ach, Du-“, schreibt Dr. Bernd Walther seinem knäbischen Romanistikstudenten noch, ehe er, ganz Schliemann und Schlemihl, zu seiner letzten Reise in die Türkei aufbricht. Hier, wo er — mindestens — die Geschichte Trojas neu schreiben wollte, findet er einen jähen Tod, der offenbar nur von Raddatz' Lustlosigkeit diktiert worden ist. „Die deutsche Not“ hat doch ein Ende: Mögen weitere Scherben und Schätze unter neun dicken Grabungsschichten unauffindbar verborgen bleiben.

Mut kann man Raddatz kaum absprechen. Nicht so sehr, weil er mit großer Gebärde alle Tabus des guten Geschmacks zertrümmert, sondern weil er seine „Ästhetik der Selbstentblößung“ bis zu einem Punkt treibt, wo Narzißmus — wider Willen womöglich — in Masochismus umschlägt und Literatur sich ganz unironisch zur „Selbstzerstörungsmaschine“, zum mondänen „Peinigungsgerät“ aufsteilt.

Fritz J. Raddatz: Die Abtreibung · Roman . Rowohlt Verlag, 190 S., 32DM