Er, sie, es und das ganze Durcheinander

■ Neue Geschichten von Christa Reinig

Kann man mit einer Salatschüssel silberne Hochzeit feiern? Was 25 Jahre hindurch Tag für Tag Präsenz verschenkte und darin all jene übertraf, die einmal Freund oder Nachbar waren, nun aber längst keins von beidem mehr sind, darf mit Fug und Recht Achtung fordern. Mehr noch: Ein Glasgeschirr, das vielleicht seine Besitzerin überlebt, hat transzendente Qualitäten. Ist nicht das Ewige Rom zerstoben, während in Museumsvitrinen noch so vieles fortexistiert, das alte Römer in Händen hielten? Zum Beispiel Glas — wer sagt, daß Zerbrechliches auch zerbricht? Ja, „und überhaupt, was sind schon Menschen“.

Doch Menschen sind es zuallererst, die Christa Reinig interessieren, genauer gesagt: Männer und Frauen, denn „Menschen“, natürlich, gibt es nicht. Frau Bonus, Frau Dr.Puffendorf, Herr Kühnel und Emmeline, ein Mörder und eine Kupplerin, eine Witwe, ein Witwer, ein Religionslehrer und, nicht zu vergessen, ein „Ich“ — Christa Reinig läßt die Agenten ihrer neuen Erzählungen recht erbarmungslos defilieren. 32 Minutengeschichten sind unter dem Titel Glück und Glas nicht eben dazu angetan, leichthin goutiert zu werden. Was wie dahingeplaudert wirkt, ist von trefflich schneidender Schärfe, ein Aufriß des Abgründigen im irdischen Gegeneinander.

Bestehen also „die kleinen Freuden“ des schnöden Alltags tatsächlich darin, jedwedem nächstbesten Mitgeschöpf hinterrücks Dantes Inferno en miniature zu inszenieren? Es scheint so. Wer dem Ur-Reflex zu „töten, um nicht zu sterben“, weitsichtigerweise nicht nachgeben mag, hat ausreichend sonstige Möglichkeiten, sich existentiell zu behaupten. Immerhin ist eine Leiche, anders als im Fernsehen, keineswegs „appetitlich frisch“, sondern ganz im Gegenteil „eine grauenvolle Scheiße“. Was aber, wenn ein junger Mann träumt, er sei ein Mörder, erleichtert erwacht, und kurz darauf begreifen muß, daß nicht sein Wecker geklingelt hat und die Herren von der Polizei ihn dringend zu sprechen wünschen?

Es ist Christa Reinigs Sinn fürs Absurde, der ihre Kurzprosa mit vielschichtigen Pointen versorgt. Selten aber wird einer der meist geplagten Protagonisten in ein Durcheinander verstrickt, das die Grenzen des Gewohnten und des Gewöhnlichen sprengt. Die Absurdität im Banalen zu finden ist Christa Reinigs Spezialität. Boshaft zu sein, doch nicht billig zu spotten, dabei aufs feinste zu amüsieren, ohne gleich auch gefällig zu werden — diese köstliche Kunst benötigt wahrhaft keinen kapriziösen Plot, kommt gleich zur Sache: „Ich war dabei, als eine Ehe zerbrach, weil der Mann ein Blatt vom Gummibaum abgerissen hatte.“

Moritaten und Parabeln, Lehrstücke und Reflexionen über Gott und Müllrecycling — querbeet treibt Christa Reinig die Worte, um mit ihnen längst schon am Ziel zu sein, bevor eine deutungsbemühte Frage deren Verfolgung aufnehmen kann. Christa Reinig tarnt sich gern: mit der Attitüde des Absichtslosen, auch mit stilistischem Understatement. Zu sagen, was ist (und was nicht ist), und das auf tunlichst beiläufige Weise, ist ihr definitives Credo. Unartigkeiten scheinen sich so von ungefähr zu ergeben. Doch lakonisch serviert, wird ein jeder Köder schnell als Kanapee verkannt, als originelle Zwischenmahlzeit im hehren Literaturbetrieb.

Reinigs „schwarzer Blick“ ist legendär, ihr Status unbestritten. Wie keiner zweiten deutschen Autorin ist es ihr gelungen, sich in den Feuilletons zu behaupten, obwohl sie einen Fauxpas beging, für den gemeinhin die Quittung nicht ausbleibt: Sie wurde zur Feministin. Der Durchbruch eines weiblichen — und dazu noch lesbischen — Ichs vor 15 Jahren im Roman Entmannung teilte Christa Reinigs Publikum: Die einen lasen bis hierher und nicht weiter, die anderen fingen hier gerade erst an. Das einstige „östliche Schmuddelkind“, seit 1964 im Westen, hat nichts dagegen, verschachtelt zu werden: ob als radikale Frauen-Frau oder auch nur als „böser Mensch“. Ihr Mißvergnügen am Patriarchat läßt Christa Reinig niemanden schonen — auch nicht das eigene Geschlecht, das „so unerhört daneben sein“ kann. Immer ist es die „Breitseite“ des Unverschämten und Scheußlichen, die ihre Dichtung zu rammen sucht. Von Marie Luise Gansberg in einem beim Verlag Frauenoffensive als Buch erschienenen Gespräch nach subtileren Verfahren als dem ihrigen befragt, wehrt Christa Reinig behende ab: „Ich bin halt etwas rustikal.“

Wer allerdings in Glück und Glas nach originär „Feministischem“ sucht, wird in diesem Sinne Eindeutiges nur selten sich erfiltern können. Verlor noch in der vor zwei Jahren erschienenen Geschichtensammlung Nobody ein Kater den Schwanz, kann von solchen als plakativ vielgescholtenen Signalen diesmal nicht die Rede sein. Es sei denn, es wäre die vielleicht schönste unter den neuen Erzählungen — Aufgeschobene Selbstmorde — als ein Schlüsseltext zu lesen: Eine Frau will sich dem Tod ergeben, denn ihr Liebster hat sie verlassen. Es ist Abend und dunkel, es brennt eine Kerze, soeben ist „er“ für immer gegangen. Vom bald flackernden Licht nun wird die Frau gezwungen, es zu „bewachen“ und zu erhalten: Sie zündet eine neue Kerze an der beinah erloschenen an. „Das tat sie mehrere Male. Dann war es ein grauender Morgen. Sie zog die Vorhänge vom Fenster zurück, pustete die Kerze aus und lebte weiter.“

Christa Reinig, die Boshafte? Ach. Glück und Glas — das ist eine so herrlich schräge wie geradezu zärtliche minimal music um das fast schon antiquierte Thema „Leben und Tod“ herumkomponiert, „Männer und Frauen“, wie gesagt, selbstverständlich inbegriffen: unverfrorene Weisheitsliteratur. Esther Röhr

Christa Reinig: Glück und Glas · Erzählungen. Mit farbigen Original-Offsetlithographien von Sabine Koch. Eremiten-Presse, 1991, 76 Seiten, 34 DM