Bücherwürmer im Ansturm

■ Besucherandrang in der Amerika-Gedenkbibliothek hat sich seit Maueröffnung fast verdoppelt/ EDV-Anlage an ihrer Kapazitätsgrenze/ Zwei Millionen Ausleihen pro Jahr

Montag abend am Halleschen Tor. Eine Menschentraube bildet sich vor der Amerika-Gedenkbibliothek. Die Menschen demonstrieren nicht gegen verkürzte Öffnungszeiten oder Büchermangel; sie stehen lediglich in der Schlange zur Garderobe, die inzwischen zehn Meter überschritten hat und immer weiter in den Regen hinauswächst. »Das soll wohl ein Witz sein!« Der 26jährige Markus F. geht unbeirrt weiter, ohne seinen Mantel abzugeben. Fünf Minuten später ist er wieder da. In voller Montur kommt er nicht in den Lesesaal. Hinter der Garderobe geht die Steherei weiter. 50 Leute warten am Buchrückgabeschalter; 30 bei der Leseranmeldung; 20 an der Bücherausleihe.

Seit der Maueröffnung erfreut sich die AGB, Berlins große öffentliche Bibliothek nach dem Vorbild amerikanischer »Public Libraries«, immer größerer Beliebtheit. Die Besucherzahlen der Bibliothek haben sich fast verdoppelt. Zwei Millionen Mal im Jahr werden hier Bücher oder Schallplatten ausgeliehen; vor dem Mauerfall waren es 1,2 Millionen. Täglich registrieren die Computer der AGB 15.000 Ausleihen, Rückgaben und Verlängerungen von dreieinhalbtausend Besuchern. 140.000 angemeldete Benutzer waren im Dezember in der EDV-Anlage registriert. 40.000 von ihnen wurden jetzt gestrichen — alle, die sich seit eineinhalb Jahren nicht gemeldet haben, müssen sich erneut in die Schlange der Leseranmeldung einreihen.

»Unsere EDV-Anlage schafft es nicht mehr. Wir haben keinen Platz für neue Anmeldungen«, erzählt Otto Jagla, Leiter der Benutzungsabteilung. Auch Bücher kann das System kaum noch aufnehmen. Je näher die Anlage an ihre Kapazitätsgrenzen kommt (bei 96 Prozent Auslastung ist sie schon), desto langsamer wird sie — und desto länger warten die Benutzer, die dann ihren Frust an den überlasteten Mitarbeiterinnen ablassen. Jagla hofft nun, bis zum Herbst eine neue EDV-Anlage bewilligt zu bekommen.

Doch Kultursenator Ulrich Roloff-Momin hat die AGB in den vergangenen Jahren nicht gerade mit Geldgeschenken überhäuft. Obwohl das Bundesministerium für innerdeutsche Zusammenarbeit den Etat für Bücher 1990 um eine Million auf zwei Millionen aufgestockt hatte und auch 1992 wieder zwei Millionen ausgegeben werden können, blieb der Personalschlüssel beinahe der alte. Lediglich vier halbe Stellen für die Ausleihe bekam die AGB zusätzlich bewilligt. Im vergangenen Jahr mußten die Öffnungszeiten um eine Stunde verkürzt werden. Seit November schließt die Bibliothek um 19Uhr ihre Pforten. Ausgeliehen wird seitdem nicht weniger — nur in kürzerer Zeit. Das Magazin, in dem sich ein großer Teil der Bücher befindet, mußte im vergangenen Jahr immer wieder samstags geschlossen bleiben— wegen Personalmangels. Oft können Bücher auch nicht ausgeliehen werden, weil niemand Zeit hatte, sie nach der letzten Rückgabe wieder einzusortieren.

Abgeblasen wurde der geplante Anbau der Bibliothek. 400.000 Bücher befinden sich bereits seit Jahren in einem Außenmagazin, das lediglich zweimal wöchentlich angefahren wird. Im Januar sollte der erste Spatenstich für den Neubau getan werden — im November kam die Absage. Jetzt wollen die AGB-Beschäftigten die politisch Verantwortlichen mit einer Postkartenaktion wachrütteln. »Ich wende mich gegen Serviceeinschränkungen der AGB/Berliner Zentralbibliothek, weil...« steht auf den Vordrucken, die Benutzer sowohl an Eberhard Diepgen wie auch an die Fraktionen der Parteien, den Kulturausschuß, den Kultursenator, den Finanzsenator und den Innensenator absenden sollen.

Otto Jagla sieht jedoch schon weitere Serviceeinschränkungen kommen. Wie er das »Bedürfnis einer europäischen Hauptstadt mit Parlamentssitz« nach einer öffentlichen Bibliothek, »die von Comics über türkische und griechische Bücher bis hin zu wissenschaftlicher Literatur alles hat«, befriedigen soll, ist ihm nicht klar. Über weitere Einschränkungen der Öffnungszeiten müsse bei dem derzeitigen Personalstand zwangsläufig nachgedacht werden.

Bis die notwendige Verstärkung kommt, müssen sich die Mitarbeiter anders helfen: Im Dezember hat die AGB erstmals ein Anti-Streß-Training durchgeführt. Einige Mitarbeiter versuchen jetzt, sich für Anti- Streß-Kurse in der Verwaltungsakademie anzumelden. Doch auch dort bilden sich Schlangen. Jeannette Goddar