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Die Lieder des Narren

■ „Der Narr“ von Gabrielle Alioth — ein kalter Schauer

Der Narr ist ein Buch für kalte Winterabende, zu lesen in einem wohlgeheizten Raum, wenn es geht, vor einem lauschigen Kamin, noch besser vor einem irischen Torffeuer, mit einem Glas irischem Whiskey in Reichweite. Denn das vorherrschende Motiv des Romans, für den die in Irland lebende Schweizerin Gabrielle Alioth 1991 von der „Literarischen Gesellschaft Hamburg“ den Preis „Der erste Roman“ für herausragende Erstveröffentlichungen bekam, ist die Kälte, die Kälte und das Schweigen. Beides kriecht einem bei der Lektüre unmerklich in Leib und Seele, so wie es die Titelfigur beschreibt, jener Narr, der einer jungen Frau namens Marie die Geschichte seines Lebens und der Burg, auf der er selbiges zubrachte, erzählt: „Aber die Kälte ist heimtückisch, Marie, sie greift nach den Herzen der Menschen, ohne daß sie es merken... Doch was die Kälte erst einmal in den Fängen hat, läßt sie nicht wieder los. Da hilft kein Feuer und keine Flucht.“

Als junger Bursche kommt der Narr mit seiner Laute in die Burg, und er verläßt sie nie wieder. Er schnallt sich den obligatorischen Buckel um, setzt sich hoch droben auf ein Fenstersims, beginnt zu singen und gehört fortan zum Inventar jener abgeschlossenen Gesellschaft in einer mitleidlosen, mittelalterlichen Welt, in der die Gefühle noch kälter sind als der Frost, der die dickste Burgmauer durchdringt. Selbst die Sonne ist hier anders, bemerkt der Venezianer, der einen Sommer lang Leben in die triste Welt der Bewohner bringt und dann mitsamt dem Burgfräulein das Weite sucht.

Der Narr sitzt oben auf seinem Sims, singt seine Lieder, schaut hinaus auf die Hügel, die Wiesen, den Fluß und beobachtet passiv das Geschehen im weit unter ihm liegenden Saal. Er sieht das langsame Dahinsiechen der unglücklichen „Herrin“, die Saufgelage des rohen „Herren“, das geheime Einverständnis zwischen dem Venezianer und dem „Fräulein“, das wenig mit Liebe zu tun hat, und er sieht die Verbitterung des verlassenen Burgherren. Fortan haben die Lieder des Narren zu verstummen, und das Schweigen hält Einzug in die alten Gemäuer.

Doch während der Herr allein und stumm Wein in sich hineingießt, bis er bewußtlos vom Stuhl sinkt, sitzt der vergessene Narr weiterhin auf dem Fenstersims und sieht hinaus in die Landschaft. Und er sieht das Anrücken der Feinde. Zum ersten Mal greift er aktiv in die Geschicke der Burg ein, aber auch das auf passive Weise, indem er das Nahen des Feindes verschweigt und den Tod aller Bewohner heraufbeschwört. Dem Herrn wird der Kopf abgeschlagen, dem Narren selbst zerschlagen sie die Hände, weil er sich weigert, für die Eroberer zu singen: „Es gab keine Lieder mehr.“

Man wirft ihn in jenes Verlies, in dem bereits sein närrischer Vorgänger verschwunden war. Nach Jahren erst wird er wieder ans Licht gezerrt, und er erzählt jener Marie die Geschichte seiner Kindheit und die Geschichte seines Daseins als Narr, die identisch ist mit der Geschichte der Burg. Der Narr ist ein schwermütiges Buch, das den Leser packt wie ein kalter Schauer. Die ständige suggestive Wiederholung der Anrede „Marie“, die plastische Beschreibung von Details, die dichte Schilderung der Atmosphäre verleihen dem Roman eine Eindringlichkeit und Nähe, die die beschränkte Szenerie jener mittelalterliche Insel beklemmend lebendig werden lassen.

„Du bist ein Narr, ein Narr“, hatte der Vater des Erzählers seinen Sohn immer wieder gescholten, und dieser nahm ihn beim Wort. „Ich bin ein Narr, ein Narr“, sind seine letzten Worte, mit denen er Marie fortschickt, „und du kannst mich nicht hören.“ Matti Lieske

Gabrielle Alioth, Der Narr . Roman, Verlag Nagel & Kimche, Zürich, 188 Seiten, geb., 34,80 Mark.

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