Jüdische Lebenswelten zur Schau gestellt

■ Ausgerechnet aus Anlaß des 50.Jahrestages der Wannseekonferenz wird in Berlin Judentum gefeiert

Es gehört offenbar zur Freßsucht unserer Zeit, in immer gigantischeren Ausstellungsprojekten ganze Kulturkreise den Besuchermassen zugänglich zu machen. Manch einen beschleicht da ein gewisses Unbehagen angesichts der Lächerlichkeit, wenn die Schaulustigen all die Exponate aus den fremden Ländern berühren und beurteilen und sich einbilden, die jeweilige Kultur nunmehr zu kennen, ohne je in ihr gelebt zu haben.

Eine der größten Ausstellungen, die die Berliner Festspiele je organisiert haben, erzeugt jedoch noch eine weitere Ambivalenz. Selbstverständlich spricht im Sinne weltweiter Toleranz nichts dagegen, sich für die Kulturen und Lebensbedingungen anderer Menschen zu interessieren. Aber daß ausgerechnet der 50.Jahrestag der Wannseekonferenz den Anlaß bietet, die größte Ausstellung über das Judentum — und zwar das gelebte Judentum in seinen unendlich vielen Facetten — zu zeigen, verleiht der Art, mit der man die unbefangene Neugier der heutigen Kultur- Konsumenten zu befriedigen versucht, mehr als nur einen Hauch von Fragwürdigkeit. Es scheint geradezu obszön, daß es der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums zu verdanken ist, daß Berlin nunmehr drei Monate lang das Judentum feiert — in 20 Räumen des Martin- Gropius-Baus sowie einem Begleitprogramm in Kinos, Theatern und Musiksälen der Stadt.

Die Konzeption der Ausstellung und des dazugehörigen Katalogs ist überaus niveauvoll und jenseits aller Klischees vom „Juden“. Und doch fragt man sich, ob eine solche Gesamtaufbereitung des Judentums in Berlin angemessen ist. Kultgegenstände, Kostüme, Gemälde, Kunsthandwerk, alte Schriften, „die vielleicht bedeutendste Zusammenstellung von Handschriften, die je zusammengeführt werden konnte“, schreibt der Intendant der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, in seinem Geleitwort, sind in der ehemaligen Reichshauptstadt ausgestellt. Die Herkunftsorte reichen vom Jemen bis nach Amsterdam, von den USA bis nach Indien und China, von Marokko bis in die ehemalige Sowjetunion. In dem über 1.000 Seiten schweren, doppelbändigen Katalog vermerken die Ausstellungsmacher, daß nur eine Auswahl der vielfältigen Formen jüdischen Lebens gezeigt werden konnte. Dennoch erscheint das Judentum in seiner Unterschiedlichkeit zeitlich und räumlich bis in die letzten Winkel dieser Welt erfaßt. Kein Wunder, daß es da der Hilfsmittel bedarf, um dem unvorbereiteten Museumsbesucher die Orientierung zu erleichtern, etwa durch eine Diavorführung, welche als „siebenminütiger Überblick über 3.000 Jahre jüdische Geschichte in Bild und Ton“ umschrieben wird.

Solch Lapidares, das vielleicht typisch für das Massenhafte ist, findet sich auch in mancher Pressemeldung wieder, etwa von 'dpa‘, wo es heißt, „interessierte Berliner“ könnten nun „das Judentum in seinen Traditionen und Formen live erleben“ — wohlbemerkt in einer Stadt, in der einmal 170.000 Juden gelebt haben. Heute sind es 8.000, von denen kaum einer das, was jüdisches Leben einmal war, praktiziert. Nur ein nicht-jüdischer Betrachter, wie der Berliner Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, kann dann auch in dieser Ausstellung „ein Vorzeichen anbrechender und kommender Ereignisse“ sehen, ein „Bekenntnis zu einer deutsch-jüdischen Kultur, die wir verloren glaubten und die doch in Berlin eine Renaissance erleben kann“. Berliner Juden, gerade der jüngeren Generation, jedenfalls fällt es schwer, das Judentum in dieser Stadt live zu erleben. Denn übriggeblieben ist durch Assimilation und Verfolgung nur noch der Schein einer jüdischen Lebenswelt. Elisa Klapheck