Ausstellung "Jüdische Lebenswelten" in Berlin
: Lebenszeichen einer verstreuten Existenz

■ Jüdisches Leben ist in unseren Köpfen immer nur jüdischer Tod. Die lebendige jüdische Kultur verschwindet unter der Übermacht der Schreckensbilder...

Lebenszeichen einer verstreuten Existenz Jüdisches Leben ist in unseren Köpfen immer nur jüdischer Tod. Die lebendige jüdische Kultur verschwindet unter der Übermacht der Schreckensbilder der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Dagegen setzen die AusstellungsmacherInnen Zeugnisse jüdischen Lebens, die vor allem eines zeigen sollen: die Normalität jüdischen Alltags in seiner ganzen Vielfalt — überall auf der Welt. Doch ist in Deutschland vom Judentum nach 1945 mehr übriggeblieben als der Schein von Leben? Zwei Stimmen zur Ausstellung

Vor knapp zehn Jahren kam einer der wunderbarsten Filme ins Kino: Zelig von und mit Woody Allen. Das Kapitel „Jüdisches Selbstverständnis in Amerika“ im Katalog zur Ausstellung, die am Sonntag in Berlin eröffnet wird, erwähnt den Film merkwürdigerweise nicht, obwohl Woody Allen dort selbstverständlich genannt ist. Womöglich deshalb nicht, weil der Film fast zu bild-buchstäblich das in Szene setzt, was auch das implizite Thema der Mammutausstellung ist. Zelig war jener Jude, der sich verzweifelt komisch bis in die chamäleonhaft körperliche Anverwandlung hinein jeweils der Umgebung, in die er geriet, anzupassen vermochte.

Und wenn die jüdischen Lebenswelten, die nun aus den rund 2.500 Exponaten aus aller Herren Länder — und hier paßt wahrlich diese Formulierung — herauszulesen sind, eines auf verwirrende Weise deutlich machen, dann eben diesen Zeligschen Doppelcharakter von jahrtausendelang bewahrter Identität und ebensolanger Anpassung, die Zerrissenheit zwischen Exklusivität und Dabeiseinwollen. Im Begleit-Essayband zur Ausstellung findet sich dazu eine ebenso selbstverständliche wie kuriose Notiz: „Die Anatomie fand heraus, daß Juden größere körperliche Ähnlichkeit mit Nichtjuden innerhalb der jeweils eigenen Gesellschaft haben als mit Juden aus anderen Teilen der Welt.“

„In den fast 3.500 Jahren seiner Geschichte“, heißt es im Katalog über das jüdische Volk, „gab es nur drei relativ kurze Perioden seßhaften Lebens und noch kürzere Zeitspannen wahrer politischer Unabhängigkeit.“ Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 bedeutete das politische Ende der Juden. Und erst 1.878 Jahre später, mit der Gründung des Staates Israel, wurde aus den Minderheiten wieder eine Mehrheit. Dazwischen liegt die eigentliche jüdische Geschichte, die der Diaspora, und die ihrer gewalttätigen Zwangsform, des Exils: die Zeit also der Zerstreuung jüdischer Menschen über buchstäblich die ganze Welt.

Was aber ist denn jüdisch, haben sich die Ausstellungsmacher gefragt. Welche Zeugnisse müssen unbedingt oder dürfen gerade noch präsentiert werden? Was also ist typisch oder gar normal, wenn Normalität, was jüdisches Leben betrifft, nicht immer schon das Gegenteil wäre: ein permanenter Ausnahmezustand. Juden haben nirgendwo nicht gelebt; sie leben und lebten — abgeschottet oder verschmolzen — in den unterschiedlichsten Kulturen, vom Jemen über Ägypten, Marokko, Spanien, China, Indien bis zu Amerika und der ehemaligen UdSSR. Gibt es demnach nur Lebenswelten im Plural, oder auch, darin verborgen, die eine jüdische Welt?

Ganz entschieden stellt sich diese Frage der Staat Israel bei der Festlegung seiner Einwanderungsrichtlinien: „Wer ist Jude?“ Das jüdische Religionsgesetz sagt, wer eine jüdische Mutter hat. Einwanderer aus der Sowjetunion, für die rechtlich die väterliche Abstammung verbindlich war, hätten so keinen Einlaß erhalten. Das Gesetz mußte also angepaßt werden, um mehr Türen zu öffnen.

Die Aussteller haben sich für die weitestmögliche Definition entschieden: „Vielleicht läßt sich sagen, daß die jüdischen Lebenswelten einerseits durch das Wort und seine Interpretation, andererseits durch verbindende historische Erfahrungen ihren Zusammenhalt finden.“ Und auch diese Beschreibung hilft nur dann, wenn man unter „Wort“ nicht nur die überlieferten Glaubensinhalte versteht, sondern auch Gebräuche, Rituale, Traditionen, Spracheigenheiten, die sich selbst während langer Säkularisierungs- und Assimilationsprozesse erhalten haben. Nicht einmal alle gläubigen Juden berufen sich auf dieselben Gesetze. Die jüdische Religion kennt keine Amtskirche, ihre Wahrheit ist eine immer im Werden begriffene. So glaubt(e) und lebt(e) ein jemenitischer Jude anders als ein portugiesischer, ein Ostjude anders als ein Westjude, ein orthodoxer anders als ein liberaler und eine ländliche marokkanische Jüdin aus dem Atlasgebirge anders als ihre städtische Schwester in Tetuan. Von der Tatsache, daß sowohl der Islam als auch die jüdische Religion sich auf denselben Ahnen Abraham alias Ibrahim berufen, ganz zu schweigen.

Und was die Geschichte angeht, da bleibt vielleicht als die eine gemeinsame Erfahrung all derer, die sich als Juden wissen, die der Fremdheit. So formuliert es der amerikanische Schriftsteller Alfred Kazin 1963: „Verstreut sind wir Juden in einem gewissen Sinn immer gewesen, und ich hoffe, wir werden es immer sein: Zerstreuung ist der Zustand unserer Existenz.“ Diese existenzielle Fremdheit konnte einerseits zur Basis eines intellektuellen Universalismus werden — über alle engen Nationalismen hinaus: Im maurischen Spanien etwa waren Juden die geistigen Zwischenhändler der Kulturen von Okzident und Orient. Oder die Fremdheit wurde Grundlage für ganz praktische Vermittlertätigkeiten: So waren es im osmanischen Reich türkische Jüdinnen, die Waren in die Harems liefern durften und derart die einzige Verbindung der Sultansdamen zur Außenwelt herstellten. Das Anderssein konnte aber auch selbst zur verbarrikadierten Innenwelt geraten: In der jüdischen Gemeinde von Saloniki durften bis ins 20.Jahrhundert hinein nur Personen heiraten, die derselben Region Spaniens entstammten, von wo sie 1492 vertrieben worden waren.

Eben dieses Datum ist übrigens auch der eine Gedenkpfeiler der Ausstellung. Vor 500 Jahren wurden die Juden vom spanischen König per Edikt gezwungen, sich taufen zu lassen oder außer Landes zu gehen. Das andere Datum liegt in jeder Hinsicht näher. Am 20.Januar jährt sich zum fünfzigsten Mal die Wannseekonferenz, auf der die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde. Und auch dieses Datum führt wieder zurück zur Frage jüdischen Selbstbewußtseins. Es ist nämlich offenbar so, daß für die jüdischen Generationen nach 1945, sowohl in Deutschland als auch in den USA, bei all ihrer Disparatheit die Erinnerung an den Judenmord den einzigen gemeinsamen „Besitz“ darstellt. Es gibt in diesem Zusammenhang tatsächlich den Begriff „Holocaust- Identität“. Das heißt, die Lebenswelten vereint schließlich nur noch der planvoll durchgeführte Tod. Ein Minimalkonsens entsteht über ein Maximalverbrechen.

Generell gibt es zwei Typen von Ausstellungen. Einmal die eher ideologische Variante à la Preußen, Die Staufer, Bismarck etc., die meist zu so etwas wie Klebstoff für Volksbildung gerät: Das sind wir, und wir waren immer schon toll! Daneben gibt es die quasi technische Variante à la Fliegen im Wandel der Zeiten, die das Fremde erstmal fremd sein läßt. Die Jüdischen Lebenswelten fallen unter keine der beiden Gruppen. Einzuheimsen gibt es da nichts. Der Prozeß verläuft vielmehr umgekehrt. Nicht nur als Ausstellungsbesucher trägt man gern das Konstrukt von den Juden im Handgepäck. In einer Art Anti-Zelig-Effekt verwandelt sich nun aber fortwährend die Fülle der geschauten Gegenstände. Kaum glaubt man das Immergleiche, Wesenhafte entdeckt zu haben, kehren die Objekte ihre Unterschiedlichkeit heraus. Und wenn man im Nahblick Differenzen ausgemacht hat, rücken sie, kaum hat man sich umgedreht, schon wieder zusammen. Eine chinesische Pagode wird vexierhaft zur Synagoge und dann wieder zum geschwungenen Tempel. Kurzum: Wenn man Juden fragt, was denn jüdisch sei, antworten sie gern: Zu fragen, was jüdisch ist.

Um so dringlicher sei dem Verlag nahegelegt, in einer zweiten Auflage des Katalogs schleunigst die „einladenden Erlebnisräume“ zu streichen, die der Intendant der Berliner Festspiele da bejubelt. Die Ausstellung lädt zum „interesselosen“ Schauen und Lesen, nicht zum Erleben ein. Es sei denn, mit Erleben ist ein sachliches und auch fachliches Staunen gemeint. In der Tat ist es den Ausstellern gelungen, Objekte von außergewöhnlicher und kostbarster Schönheit und absonderlicher Einzigartigkeit zu versammeln. Einige Lebens- und Glaubenszeugnisse sind öffentlich sogar noch nie zu sehen gewesen.

Im 'Spiegel‘ ist in dieser Woche ein Artikel über die Jüdischen Lebenswelten und die gleichzeitig eröffneten kleinen Parallelausstellungen über jüdische Friedhöfe, die Wannseevilla und den Jüdischen Kulturbund erschienen. Darin nimmt die nationalsozialistische Judenvernichtung fast mehr Raum ein als die Beschreibung des jüdischen Lebens.

Das führt zu einer verwirrenden Vermutung: Ist es vielleicht eine letzte perfide Konsequenz der deutschen Nazigeschichte, daß es in gewisser Weise „einfacher“ ist, über die inzwischen als Verbrechen akzeptierte Naziherrschaft sein ritualisiertes Entsetzen zu äußern, als sich der Mühe einer gründlichen Erforschung jüdischen Lebens vor dem Tod auszusetzen? Wäre das Klischee von den Opfern womöglich schlicht handhabbarer? Und schleicht sich nicht so auf hinterhältige Weise doch wieder die Differenz von Wir und die anderen ein?

In der Pressekonferenz, die mit 300 bis 400 Medienleuten so voll wie nie war — die Ursachen dafür würden wohl weitere Abgründe auftun — kam es denn auch schon zu ersten wechselseitigen Ausschlußbezichtigungen, allerdings vorerst innerjüdischer Art: Ein Vertreter der Berliner Adass-Jisroel-Gemeinde warf den Veranstaltern vor, man habe sie bei der Konzeption nicht berücksichtigt und im übrigen vor lauter Vorvorgestern-Begeisterung die bedrohliche gegenwärtige großdeutsche Politik ignoriert. Christel Dormagen