Ein Volk von Eis und Schweigen?

Ein Volk von Eis und Schweigen?

Am 2. Januar öffneten sich die Türen der Gauck-Behörde. Erstmals sahen einige exponierte Bürgerrechtler ihre Akte. Unter großem persönlichen Einsatz war um diese grundsätzliche Offenlegung gekämpft worden, vor der Wende nicht weniger als nach der Wende. Die enorme Verantwortung, die damit übernommen wurde, war nicht das Thema dieses Tages, auch nicht der ungute Umstand, daß anderswo im Lande Leute Mühe hatten, ihre Anträge auf Akteneinsicht durch Türschlitze zu schieben. Was immer an diesem Tag auf den Bildschirmen rüberkam — Langeweile der einen, Entrüstung, Belustigung der anderen, wir alle wissen, es ist mit Schmerz verbunden, eine menschliche Desillusionierung ohnegleichen.

Vielleicht doch lieber alles begraben? Wie Spanien es machte nach Franco? Lieber vergessen? Das permanente Mißtrauen unterdrücken? Den Ekel abends auf dem stillen Örtchen auskotzen? So tun, als wäre nichts geschehen?

Nach 45, als das deutsche Volk langsam, bei zäher Gegenwehr, die Greuel zur Kenntnis nahm, die es begangen hatte, gab es zwei Dinge, die es aufrecht hielten, das war seine stolze Vergangenheit, die Dichter- und-Denker-Vergangenheit, und das waren seine Widerständler. Alle zusammen, Stauffenberg, Goethe, die Droste und die Weiße Rose, haben geholfen, daß das deutsche Volk sich 45 zwischen seinen geschwollenen Lidern noch in die Augen sehen konnte. Mittlerweile haben auch seine Dichter und Denker die Unschuld verloren, und die Widerständler wissen nicht, wie viele ihrer Mitstreiter den Verräter spielten. Wenn jemand jemanden umbringt, ist das schlimm. Wenn ein Arzt Kokain verkauft, ein Pfarrer Callgirls anbietet, eine Mutter ihr Kind totschlägt, ist das ungeheuerlich. Künstler und Theologen als Stasi-Informanten sind das Allerletzte. Die bestürzenden Statements von 3.000 Studenten und Universitätsangehörigen zugunsten des Rektors der Humboldt-Uni, Fink, kommen wahrscheinlich aus diesem unerträglichen Bewußtsein. Man hat das Gefühl, daß es Kunst nur noch in Form des Aufschreis von Sarah Kirsch geben kann über den »ungeheuerlichen Verrat an der Kunst«, Geist nur noch in Form von Biermanns Kraftausdrücken?

Von Anfang an waren die großen Feinde der Menschheit die Menschen. Wenn sie sich nicht opferten oder fraßen, dann grenzten sie aus — Alte, Künstler, Bucklige, Neger, Hussiten, Liebende, Juden —, die Zahl ist Legion. Aber zur gleichen Zeit begann ein bis heute währender leidenschaftlicher Kampf um die Einheit der Menschheit. Das positive Ergebnis dieses Ringens ist ein gesteigertes Bewußtsein der Menschheit von sich selbst. Dieses Bewußtsein bildet die Grundlage aller Kultur und jeder Form von Humanität. Vielleicht war das Ende des Dritten Reiches die Entscheidungsschlacht. Nie zuvor wurde sadistischer, umfassender und perfider ausgegrenzt, und nie zuvor wurde deutlicher, daß dieser Weg in die Barbarei, in die unfruchtbare Un-Tat führt. Aber das Ende ist noch nicht das Ende. Aus Ausgrenzung wurde Abgrenzung. Ein völlig neuer Typ von Heillosigkeit machte den Probelauf, der des ausgegrenzten Ichs. Sascha Anderson, der als Sascha Arschloch berühmt wurde, huldigt seiner selbst so: »...ich bin nicht schizophren, sondern ich bin der, der schizophrenie als mittel zur verfügung hat...« Ist das der Mensch von morgen? Werden die Kinder der Aktien- und die Kinder der Aktengesellschaft das Zeitalter der Schizokratie eröffnen, ein Volk von Eis und Schweigen mit Diskettenaugen und Fingern aus Stahl? Wird es zum guten Ton gehören, sich siamesisch zu geben, im Duett zu rufen: »Sicherheit vor Recht!« oder: »Es muß so sein!«?

Der Anblick von Monstern ist furchtbar. Es demütigt mich hinzusehen. Ich habe keine Freude daran, mich irgendwie besser zu fühlen. Ich bin traurig, daß so viele Menschen sich haben unter Aufgabe jeglichen Unrechtsbewußtseins derart entstellen lassen, und ich bin traurig, daß ich niemanden davor bewahren konnte; daß meine einzige Heldentat ist, mich selber davor bewahrt zu haben. Ich weiß nicht, was tun, ich weiß nur — Stillschweigen darf es nicht geben. Jede Zeile jeder Akte muß bis zu ihrem letzten bitteren Punkt gelesen werden. Ich weiß aber auch, daß der den ausgrenzenden Ausgrenzer ausgrenzende Ausgrenzer ein Reim ist auf die unendliche Regression einer von Geheimdiensten regierten Welt — der bewachende Bewacher bewacht den bewachenden Bewacher, ad infinitum. Ich weiß also, daß wir irgendwann miteinander reden müssen.

Es ist ein gesamtdeutsches Thema und betrifft jeden von uns: Die »eine Menschheit« und »der eine Mensch« sind die höchsten Werte, die wir haben. Alles zerfällt, wenn sie zerfallen.

Ricarda Horn ist im Sprecherrat des Bündnis 90 und lebt teilweise in Berlin. In der Stadtmitte schreiben Berliner Persönlichkeiten zu Problemen der zusammenwachsenden Stadt.