Apokalypse Amerika?

Oder: die neue Selbstgefälligkeit  ■ Aus Washington Rolf Paasch

Im neuen Jahr von Europa nach Amerika kommend, fällt besonders eines auf: In Deutschland ist der Untergang der USA schon beschlossene Sache. In der Neuen Welt dagegen wehrt man sich noch mit allen Kräften gegen das von den europäischen Medien verordnete Schicksal.

Auf der Titelseite des 'Stern‘ steht George Bush schon das Wasser bis zum Halse. Und ganz Amerika funkt SOS. In den USA dagegen würde jener George Bush morgen mit großer Stimmenmehrheit wiedergewählt werden. Und die Arbeitslosenrate von 7,1 Prozent werden die Deutschen mit ihrer verspäteten Rezession auch schon bald an ihrer eigenen Volkswirtschaft erfahren. Kein Grund zur Überheblichkeit also.

Dies soll nicht heißen, daß die USA keine Probleme hätten. Eine enorme Überschuldung von Unternehmen, staatlichen und privaten Haushalten, welche die wirtschaftliche Erholung noch weiter herausschieben wird. Bankrotte Städte und Gemeinden, denen die Gelder für die ihnen übertragenen Sozialleistungen fehlen. Eine zerfallende Infrastruktur, schlechte Schulen und eine weiter ansteigende Mordrate. Grund zur Berunruhigung also.

All dies wird von der deutschen und europäischen Presse immer wieder gründlich, ja beinahe genüßlich kolportiert. Wie gut nur, daß wir in Deutschland einen ungleich besser ausgestatteten Sozialstaat haben, eine sozialverantwortliche Manager- Kaste unsere Unternehmen und Banken beherrscht und wir auf unseren Straßen nicht gleich bei jedem Routine- Raub eine Kugel in den Kopf geballert bekommen. Manchmal ist es, als suche sich hier der traditionell außenpolitische Antiamerikanismus mangels globalen Engagements der Weltmacht ein neues Betätigungsfeld. Nicht mehr in Vietnam, Panama oder dem Irak, sondern in ihren eigenen Städten erscheint uns „der Amerikaner“ nun dumm und gewalttätig.

Doch die in keiner US-Sozialreportage fehlenden Drogenabhängigen, Obdachlosen und Mordopfer sind nur ein Teil der amerikanischen Realität. Der andere Teil, nämlich die nahezu unglaubliche soziale, kulturelle und ethnische Integrationsleistung dieses Einwandererlandes, findet dagegen in den deutschen Medien nur selten seine Würdigung. Würde unser so selbstgefälliges Vaterland morgen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert — mit Hoyerswerda hoch zehn sozusagen —, wir hätten bald statt eines löchrigen Sozialstaates und höherer Verbrechensraten wieder einen soliden Faschismus.

Anstelle sich an Amerikas vermeintlicher Apokalypse zu weiden, sollten wir deswegen lieber genauer hinschauen. Denn wenn die wandernden Völker jetzt zu einer globalen Migration aufbrechen, wird die amerikanische Geschichte der letzten Jahrhunderte — das Aufbrechen und Ankommen, das erzwungene Miteinander und verwirrende Durcheinander vermischter und der Identitäten — zu d e r Story des 21. Jahrhunderts werden. Und diesmal wird diese Geschichte auch bei uns in Europa spielen.

Nicht daß dies in Deutschland schon jemand wahrhaben wollte; aber wenn in den 90er Jahren von Osten und Süden neue Migrantenströme nach Europa drängen, wenn billige Arbeitskräfte das Lohnniveau auch in Deutschland nach unten drücken, wenn die Zuwandererkinder unser Bildungssystem vor ganz neue Herausforderungen stellen, dann werden die amerikanischen Erfahrungen im Umgang mit wirtschaftlichem Abstieg, sozialer Polarisierung und ethnischer Vielfalt plötzlich auch bei uns relevant werden.

Die Frage nach der Überlebens- und Adaptionsfähigkeit der verschiedenen Gesellschaftssysteme und Handelsblöcke ist jedenfalls noch längst nicht zugunsten Europas beantwortet, wie dies die Katastrophenberichterstattung über die US-Wirtschaft und das Sozialwesen oft suggeriert. Einer Studie des japanischen Handelsministeriums zufolge rangieren die USA in sechs der sieben wichtigen Industriebereiche noch immer vor den Europäern.

Noch haben die Europäer zweifellos die bessere Infrastruktur und das höher qualifizierte Humankapital. Was aber geschieht, wenn die Lähmung und Selbstblockade des politischen Systems in Washington erst einmal aufgehoben wird, wenn die Energien des ungleich flexibleren Amerikas nach einem Jahrzehnt republikanischen Führungslosigkeit wieder kompetent gelenkt werden? Es wäre nicht das erste Mal, daß die Amerikaner im Angesicht der Krise ihre Ärmel hochkrempeln und den Rest der Welt staunend zurücklassen.

Und was, wenn sich die soziale Homogenität als Grundvoraussetzung der japanischen und deutschen Wirtschaftswunder nicht mehr länger aufrechterhalten läßt? Bisher jedenfalls sind in Deutschland weder Bürger noch Bürokratie auf das Multikulti von morgen vorbereitet.

Doch nicht rigide Sozialstaatspolitik und Besitzstandswahrung made in Germany werden die auf uns zukommenden Probleme des nächsten Jahrhunderts zu lösen vermögen; sondern höchstens die Fähigkeit zur Metamorphose und Mobilität, beides zentrale Themen nicht der europäischen, sondern der amerikanischen Geschichte und Gegenwart.