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Flüchtling, Dichter, Sammler

■ Zur Uwe-Johnson-Ausstellung vom 16.1. — 14.2. in Bremen

Die wettergegerbten Bewohner der englischen Kanalinsel Sheppey hatten sich an den schweigsamen Deutschen gewöhnt. Jeden Abend hockte er wie sie am Tresen des „Napier“, trank sein nicht unbeträchtliches Quantum, lauschte ins Stimmengewirr, kritzelte Aufzeichnungen ins Notizbuch und verschwand zur Closing Time. 1974 hatte sich der menschenscheue Schriftsteller, nach etlichen Versuchen, seßhaft zu werden, nach “Sheerness on Sea“ zurückgezogen. Dort ist er in der Nacht vom 23. zum 24. Februar 1983 gestorben. Seine Leiche wurde erst vierzehn Tage später gefunden. Radio Bremen präsentiert gemeinsam mit der Rudolf- Alexander-Schröder-Stiftung den verkannten „ersten gesamtdeutschen Dichter“ (Enzensberger) im Rahmen der literarischen Woche. Entwickelt und zusammengestellt ist die großangelegte Ausstellung vom Uwe-Johnson- Archiv und dem Hessischen Rundfunk. Sie ist ab morgen im Staatsarchiv zu sehen.

Nach dem Fall der Mauer erst konnten wichtige Materialien, besonders aus der Rostocker und Leipziger Zeit, gesichtet und ausgewertet werden. Über mangelnde Resonanz konnten sich die Macher in München und Frankfurt nicht beklagen. Warum sollte das nicht auch in Bremen gelingen, fragten sich die Verantwortlichen der Hauptabteilung Kultur beim heimischen Rundfunk. Überdies scheint der schwergängige Prozeß der deutschen Einheit eine aktuelle Gelegenheit, Johnsons zentrale Thematik einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen: Nachdenken über Deutschland West und Ost. Dabei waren mecklenburgische Erdverbundenheit und westlich-zivilisatorische Lebensführung eine durchaus produktive Liaison eingegangen. Eine komplexe, schwierige Biographie bildet den Hintergrund für ein Werk, das sich an den wichtigsten Funktionen des Erzählens, der Erinnerung und ihren vielfältigen Wirkungen, in mühevoller Dechiffrierung abarbeitet. Trotz sozialistischer Ideale eckte Johnson bereits im Mai 1953 im „Arbeiter- und Bauernstaat“ an und wurde von der Universität Rostock exmatrikuliert. Er weigerte sich, angebliche Westspione zu denunzieren. In Leipzig, „der wahren Hauptstadt der DDR“ (Johnson) setzte er sein Germanistikstudium fort. Hans Mayer, bei dem er sein Diplom absolvierte, entdeckte als erster literarisches Talent. Doch die sperrige Prosa entsprach nicht den Richtlinien des sozialistischen Realismus. 1959 beendete Johnson seine Staatsbürgerschaft durch deren Rückerstattung. Weitere Stationen: zunächst einmal Westberlin. Später längere Aufenthalte in den USA, besonders New York. Schon „Mutmaßungen über Jakob“ deutete auf eine eigenwillige Gestaltungskraft hin, eine Mischung aus Geduld und Trauer, Empfindsamkeit, Zorn und Genauigkeit. Eine umfassende Herausforderung, der nicht allzu viele Leser nachkamen. Gesine Cressphal ist die Hauptperson seines Opus Magnum „Jahrestage“. Eine minutiöse Archivierung großstädtischen Alltags, gekoppelt mit ausschweifenden Rückblenden. Von manischer Sammelleidenschaft getrieben streifte der psychisch anfällige Johnson durch die Stadtlandschaften, immer auf der Suche nach Rohstoff. Fähigkeiten und Begrenzungen des menschlichen Gedächtnisses wurden auf ihre literarische Verwertbarkeit hin ausgelotet. Privat eher unglücklich vergrub sich der Autor immer mehr in seiner Recherchierungswut. Zwar sammelte er nicht nur Erinnerungsfetzen, sondern auch bedeutende Literaturpreise, seine Bücher blieben nur einem kleinen Kreis von Kennern erschlossen. Mit ein wenig Bereitschaft zum Abseitigen kann das anders werden. Die Ausstellung sucht aus mehreren Richtungen Tuchfühlung zu einem Literaten, der sich der deutschen Nachkriegsentwicklung mit merkwürdig gebrochener Leidenschaft verschrieben hatte.

Per Hansen

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