SOMNAMBOULEVARD — WUNDERKRANKHEIT Von Micky Remann

Wer Schnupfen hat und im Traum träumt, er habe Schnupfen, offenbart nicht nur ein beklagenswertes Maß an Einfalt, sondern verfehlt sein menschliches Potential um Längen. Der Meinung ist auch Dr. Wunsch, den ich hier gerade treffe, während Du in anderer Angelegenheit schnarchst, und der am Somnamboulevard 23, 1. Stock rechts eine gutgehende Praxis unterhält. Dr. Wunsch behauptet, daß eine der schickesten Chancen im Klartraum die sei — das wird Dich interessieren, wenn Du zu den anwendungsorientierten TräumerInnen gehörst —, daß hier allerhand psychosomatische Sonderheiten ausprobiert werden können, die es sonst noch gar nicht gibt.

Vorteil einer Wunderkrankheit im Windkanal: Symptome, Verlauf und Therapie lassen sich in der Traumform auskundschaften, ohne gleich den Echtzeit-Körper in Mitleidenschaft zu ziehen. Unsere Rede kommt auf luzide Deformationen, eklige Hautpusteln, faulige Zähne, heraushängende Därme, die, wie mir der Doktor ungerührt versichert, keine Seltenheit sind im vor nichts zurückschreckenden Selbstbildsimulationstraum. Doch das eigentliche Anliegen des Wunschmediziners ist eine von ihm entdeckte brandneue Malaise: das At-loss-Syndrom, abgeleitet vom englischen Idiom für Nicht-mehr- weiter-wissen. Diese bisher nur auf dem Somnamboulevard bekannte Krankheit — „die aber jederzeit in den Wachzustand überschwappen kann“, wie Dr. Wunsch warnt, während wir über eine M.C.Escher-artige Wendeltreppe wanken, „weil fast alle Real-Gebrechen auf Infektionen somnambulen Ursprungs zurückgehen“ —, diese Krankheit äußere sich vorrangig in akutem Traumzeitverlust.

„Um Gottes Willen, ist das ansteckend?“, frage ich. „O ja, und es wird durch ein gefährliches Virus übertragen, nämlich den ,Ruf nach Sicherheit‘. Wo immer der ertönt, ist das At-loss-Syndrom nicht weit. Entspringt es doch der Sucht nach sequentieller Wahrnehmung, nach der engen Welt kalkulierbarer Erinnerungsrückläufe. Diese Welt steht aber auf dem Spiel, sobald jemand in die polykontexturale Parallelverarbeitung rutscht, die wir hier so elegant und profitabel praktizieren. Folge des Virusbefalls: lineare Hetzträume, monotemporale Verödung, somnambule Impotenz!“

„Schrecklich!“, sage ich, „was tut man dagegen?“

„Ich behandle meine unruhig schlafenden, umsonst nach Sicherheit rufenden At-loss-Patienten mit dem homöopathischen Kehrwert ihres Zeitverlusttraumas, also mit Traumzeitgewinn. Ich verschreibe ihnen rhythmische Träume, viel Vibrationssymbolik, Quanten- Blues, alles, was ihr Zeithirn mit dem Frequenzhirn synchronisiert, bis daraus die liegende Einszeit-8, die Unendlichkeitsschlaufe wird. Andernfalls landen die Zyklen im schwarzen Loch, statt neue Sonnen zu bilden. Fazit: Wer an Schnupfen leidet, soll im nächsten Klartraum ganz bewußt von einer nichtlinearen Acht auf einer M.C.Escher-artigen Wendeltreppe träumen“, rät Dr. Wunsch, ohne zu niesen.