Das Blendende weggeblendet

■ „Tochter der Luft“ — Uraufführung nach Calderon von Enzensberger durch Heyme in Essen

Was der Tochter der Luft fehlte, sah der Fotograf: den blendenden Zauber

Vor einem Jahr verlangten Schüler in täglichen Demonstrationen einen „Stopp dem Völkermord“, selbstverständliche dem US-amerikanischen. Der ehemalige Schulsenator Franke forderte öffentlich: „Friedenserziehung in Bremen muß daher das Vorgehen der USA am Golf als schändlich entlarven.“ Zur gleichen Zeit „versuchte“ Hans-Magnus Enzensberger, ziemlich allein, „zu zeigen, daß die Rede von Saddam Hussein als einem Nachfolger Hitlers (...) das Wesen der Sache trifft.“ — Im Unterschied zu normalen Diktatoren sei „der primäre Antrieb“ von Hitler wie von Saddam Hussein „die Entschlossenheit zur Aggression“, die sich nähre aus dem Gefühl einer langandauernden Kränkung.

Zur gleichen Zeit hat Enzensberger an einem Stück gearbeitet, das jetzt in Essen uraufgeführt wurde unter der Regie von Hansgünther Heyme, dem jetzigen Essener und künftigen Bremer Intendanten, der die Arbeit auch bei Enzensberger bestellt hatte: Tochter der Luft von Calderon de la Barca (1600-1681) ist die Geschichte der Königin Semiramis von Assyrien, das im ersten vorchristlichen Jahrtausend dort ge

wesen sein soll, wo heute der Irak ist.

„Tochter der Luft“ zeichnet die Geschichte der magisch schönen, mörderischen Königin Semiramis als Faszinosum und als Schreckensbild einer absoluten Macht, die ihre destruktive Leidenschaft zum ungezügelten Gesetz ihrer Herrschaft macht.

Calderons Barockbrocken benötigt neun Stunden und eine Bühnenmaschinerie mindestens mit Erdbeben und Wasserprozessionen. Enzensberger machte daraus ein schlankes Zweieinhalb-Stunden-Stück.

Er hat ein Doppeltes versucht. Das eine ist, inhaltlich Calderons Kühnheiten aus viel Konventionellem herauszuschälen und zu verdichten. Das andere ist, anders als bei Calderon, „eine diskrete und nüchterne Versgestalt“, aus drei- bis vierhebigen Jamben ohne Reim, mit denen „Das Phantastische der Handlung nicht verdoppelt, sondern unterlaufen“ werden soll.

Entstanden ist so ein kurzes Vorspiel und, nach einer Pause, der auf der Ebene des Stücks ein Überspringen um 20 Jahre entspricht, eine Haupthandlung. Das Vorspiel zeigt Semiramis, festgehalten in einer Höhle in der Wild

nis, damit sie nicht tun kann, was die Sterne verkünden: „Du wirst Völker niedertreten, so weit die Sonne rollt, und Menschen köpfen. Blendung droht dem, der dich begehrt, und einen König, der dir Hand und Krone reicht, wirst du ermorden.“ Die Blendung ihres Befreiers, den sie verrät, für den König, der sie begehrt, noch ehe er sie sieht, fallen noch in das Vorspiel. Die Durchführung zeigt schon eine „Herrin der Welt“, die die Völker grausamst niedergetreten hat und sie zeigt, mit einem Spiel im Spiel, gleich zu Beginn, warum sie das tut. Was sie treibt, ist kein Interesse, sondern eine globale Rache, immer wieder, den Hunden, die sie hetzten, den tödlichen Biß zu versetzen.

Enzensberger baut das Stück um dieses Motiv herum: den Durst der angeketteten Hündin nach einer Freiheit, die darin besteht, zu vernichten und in Ketten zu legen, zu Hunden zu machen, auf wen sie trifft.

Daß Stoff und Bearbeitung aufregend sind, daran ist kein Zweifel. Ob es das Bühnenstück auch ist, ist nach dieser Uraufführung offen. Heyme will nicht mehr den aufklärereischen Agit-Prop, der sein Markenzeichen war. Deshalb holt er sich Leute wie Enzensberger, aber auch auf den Geist, den er rief, hat er sich nicht verlassen mögen. Der hatte Semiramis zu Beginn in eine „Höhle“ gesetzt, aus der sie schreit: „Steigen will ich und höher atmen.“ Heyme läßt sie aber gleich steigen, er hängt sie wie ein Segelflugzeug unter dem Bühnenhimmel auf und verpatzt damit die Leidenschaft des Traumas der Bedrängung, von Anfang an.

Das ist kein Zufall. Heyme engagiert die schöne Gudrun Landgrebe, als Semiramis, aber das ist ihm dann auch des Gefährlichen genug. Als er die magisch attraktive Massenmörderin in Babylon zeigt, da sieht man sie als „Herrin der Welt“ im knatschroten Cocktailkleid auf ebensolchen Pumps über giftgrünes Rasenimitat („die Gärten der Semiramis“) kippeln, zwischen Schießbudenfiguren in Knautschlack und Toupet (ihre Feldherren) und einem Plastikküchenstuhl aus dem Horrorkabinett des American Way og Life. Ehe man, abgesehen von Landgrebes unzerstörbarem Profil, eine Ahnung vom faszinierenden Glanz dieser Siegreichen bekommen könnte, hat Heymes ängstlicher Zeigefinger aufgeklärt, daß nicht alles Gold ist, was glänzt und aus Amerika kommt. So posiert sich Gudrun Landgrebe peinlich zwischen der Anforderung hindurch, zugleich ein großes Monster zu sein wie Semiramis und lächerlich klein wie Brechts Ui. Daß Heyme die amerikanische Plastik-Kultur, die bekanntlich das zur Herstellung notwendige Öl durch Blut gewinnt, an den Tatort Babylon verpflanzt, mag dem bremischen Ex-Schulsenstor recht geben. Enzensbergers Stück aber stellt es von den Füßen auf den Kopf.

Uta Stolle