GASTKOMMENTAR
: Langes Schweigen nach 1.000 Gesprächen

■ Stolpes späte Flucht in die Öffentlichkeit

Als Gerücht kursierte es schon seit Monaten: Manfred Stolpe sei Informant des Staatssicherheitsdienstes gewesen. Nun ist er selber mit dem Eingeständnis an die Öffentlichkeit getreten, er habe sich in konspirativen Wohnungen mit Offizieren des MfS getroffen. Nur Naive werden dem gewieften Taktiker abnehmen, daß er sich zufällig gerade jetzt zu diesem Schritt entschlossen hat. Seit 14 Tagen nämlich können die Opfer in ihren Akten lesen, und es ist nur eine Frage der Zeit, daß sie — nach Anderson, Schedlinski und IM „Notar“ — auch auf den Namen Stolpe stoßen werden. Wie in allen vorangegangenen Fällen ist man verblüfft über den Gegensatz zwischen dem Ausmaß der Kontakte und den wohlklingenden Begründungen für diese: 30 Jahre haben sie bestanden, „rund 1.000 Gespräche mit dem Staatsapparat“ (also knapp drei pro Monat) habe es gegeben — geschickt hält Stolpe dabei offen, wieviele er davon mit der Stasi führte. Im Dunkeln läßt er auch, in wessen Auftrag er dabei handelte, und ob er die Betroffenen, um die es in den Gesprächen ging, darüber informiert hat.

Auffällig ist, daß die Kontakte offenbar exakt seit seinem Eintritt in den Kirchendienst 1959 bestanden haben. Ausgeschlossen muß auch erscheinen, daß er schon als 24jähriger frischgebackener DDR-Diplom-Jurist der Vorstellung nachhing, auf diese Weise „die DDR auf den Weg zum Rechtsstaat locken“ zu können. Mißtrauisch macht auch, daß trotz der vielen Stasi-Gespräche in der Gauck- Behörde keinerlei personenbezogenes Material über Stolpe gefunden wurde. Könnte es sein, daß auch in diesem Fall von der Stasi Unterlagen aus „Kameradschaftlichkeit“ vernichtet wurden? Die „Solidarität des Schweigens“ zwischen den Stasi- Offizieren und ihren einstigen Gesprächspartnern hat dazu geführt, daß die Öffentlichkeit bisher von den Zuträgern der Staatssicherheit in unerträglicher Weise an der Nase herumgeführt werden konnte — ihr letztes gemeinsam begangenes Verbrechen. Erst seitdem die Opfer in ihren Akten auf die Täterberichte stoßen, beginnt sich dies zu ändern. Man kann nur hoffen, daß sich bald auch einer der in 30 Jahren von Stolpe „diktierten“ Berichte findet, der Aufschluß über seine tatsächliche Rolle gibt.

Wie bei Lothar de Maizière ist das Empörende heute weniger die Tatsache der Verstrickung selbst als vielmehr der nachträgliche Umgang damit: Das Schweigen bis zum letzten Moment, das Abwiegeln und Herausreden, das Streben nach höchsten Ämtern, statt dezent aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu verschwinden. Gleichwohl steht gerade bei Stolpe zu befürchten, daß sich nunmehr ein Ring von Fürsprechern um ihn scharen wird, die ihm, ohne es wirklich beurteilen zu können, ihr Vertrauen aussprechen. Tatsächlich ist jedoch der Schaden, den ein Belasteter und damit erpreßbarer Ministerpräsident auf lange Sicht verursacht, um ein Vielfaches größer, als wenn man nun nach einem neuen Ausschau hält. Hubertus Knabe

Der Autor ist Publizist und lebt in Berlin