INTERVIEW
: „Stolpe hat sich doch nie entzogen“

■ Ludwig Mehlhorn, Mitglied der Evangelischen Akademie Ost, über den „Fall“ Stolpe

taz: Herr Mehlhorn, Manfred Stolpe erklärt jetzt über den 'Spiegel‘, das Ziel seiner Kontakte zur Stasi sei gewesen, den SED-Staat von innen zu überlisten...

Mehlhorn: Stolpe hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er Gespräche mit der Stasi geführt hat. Ich kenne Stolpe als jemanden, der, was die Beziehung Kirche und Opposition angeht, sich zwar nie offen mit uns solidarisiert hat. Wir wußten aber damals, daß er uns hinter den Kulissen immer sehr wirksam unterstützt hat.

Weswegen geht Stolpe erst jetzt so detailliert an die Öffentlichkeit? Es gab doch immer wieder Verdächtigungen auch gegen ihn...

Er hat ja nicht bis jetzt gewartet. Schon vor einem Jahr ging das immer wieder durch die Presse. Und er hat sich dazu auch geäußert. Ich sehe nicht, wo Stolpe sich dem entzogen hätte. Da haben doch in der Vergangenheit öffentliche Veranstaltungen dazu stattgefunden. Stolpe ist außerdem nur einer von vielen Handelnden. Er hat ja nicht das ganze Geflecht um ihn herum durchschaut. Und auch er hat zum Beispiel damals den Wolfgang Schnur (Kandidat vom Demokratischen Aufbruch, der im Vorfeld der letzten Volkskammerwahl als IM enttarnt wurde, d. Red.) vertraut.

Und auch der wurde damals als integer bezeichnet...

Richtig. Und bis irgend etwas anderes bewiesen ist, ist das für mich Manfred Stolpe auch.

Kann man einen Vergleich zum Fall de Maizière ziehen, der ja in der Öffentlichkeit gleich verurteilt wurde?

Ich sehe derzeit überhaupt keinen Anlaß, diesen Fall mit Schnur oder de Maizière zu vergleichen. Im Fall de Maizière gab es die „Czerny“-Kartei. Eine Akte Stolpe dagegen gibt es nicht.

Eben. Aber genau das sollte einen doch wundern, nicht wahr?

Es wird sicherlich Protokolle über Gespräche mit Stolpe gegeben haben. Aber unter welcher Rubrik...? Vielleicht findet sich da noch was in der Gauck-Behörde.

Glauben Sie, daß sich anhand dieses Beispiels die Diskussion über den Komplex Stasi versachlichen läßt— so daß in Zukunft nicht gleich jeder Verdacht auf eine IM-Tätigkeit schließen läßt?

Das hoffe ich allerdings. Wir dürfen die ganze Debatte um die Vergangenheit nicht ausschließlich durch das Nadelöhr Staatssicherheit führen — wiewohl wir durch dieses Nadelöhr durchmüssen. Die Frage Stasi-Tätigkeit oder nicht ist einengend. Es hat jenseits davon politische Fehlentscheidungen gegeben — daß man Situationen nicht richtig erkannt hat. Davon ist keiner so ganz frei. Auch Manfred Stolpe nicht.

Wird diese Aufarbeitung Manfred Stolpes für ihn als Politiker Konsequenzen nach sich ziehen? Die Stimmung im Lande zeichnet sich im Moment, wenn es um die Stasi geht, ja nicht gerade durch Differenziertheit aus...

Konsequenzen? Nein. Also wenn es bei dem, was auf dem Tisch liegt, zu einer Kampagne gegen Stolpe kommen sollte, dann wird das eher einen Solidarisierungseffekt zur Folge haben. Interview: Henk Raijer