Keine Zukunft ohne Analyse der Vergangenheit

■ Nach den Diskussionsbeiträgen von Hans Kremendahl (SPD) und Renate Künast (Grüne/AL) über die Perspektiven einer rot-grünen Koalition bezieht nunmehr Michael Cramer (Grüne/AL) eine sehr kritische Position gegenüber seiner Partei

Berlin. Die fehlende »kritische Aufarbeitung der rot-grünen Koalition und ihres Scheiterns« behindert nach Ansicht von Uwe Lehmann (Vorstandsmitglied von Bündnis 90) ganz wesentlich die gute Zusammenarbeit zwischen Bündnis 90 und Grünen. Damit legt er den Finger in unsere Wunden, denn bis heute fehlt eine Bestandsaufnahme darüber, warum die AL bei der Wahl am 2. 12. 90 fast die Hälfte ihrer WählerInnenstimmen verloren hat.

Offensichtlich ist es leichter, die Niederlagen der anderen zu analysieren. Wenn Uwe Lehmann die Aufarbeitung der verlorenen Wahl anmahnt, sollte die AL das ernst nehmen. Denn dahinter verbirgt sich ein Mißtrauen, das in der Mitgliedschaft und bei den WählerInnen von Bündnis 90 verbreitet ist.

Nach Ansicht von Wahlforschungsinstituten, Kommentatoren und sonstigen Schlaumeiern war die Deutsche Einheit das alles überragende und wahlentscheidende Thema. Das Verhalten der Parteien dazu wurde gewählt beziehungsweise abgewählt.

Verloren haben bei dieser Wahl SPD und Grüne, weil sie den Ausgangspunkt einer realistischen Deutschlandpolitik, nämlich die Anerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten, zum Endpunkt ihrer politischen Pragmatik gemacht hatten. Verloren haben auch die Grünen, weil sie die etatistische Entspannungspolitik der SPD übernommen haben, die sich die Zusammenarbeit mit der SED-Führung nur bei gleichzeitiger Ausgrenzung der Dissidenten vorstellen konnte. Daß es gerade die Fundis in den Grünen waren, die der SPD-Realpolitik hinterhertrabten, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie.

Im Jahr der Einheit wurde eine grundlegende Fehleinschätzung in der Deutschlandpolitik allenfalls von treuen StammwählerInnen verziehen. Das mußten SPD und Grüne am Wahlabend schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Warum sollten auch die WählerInnen gerade jenen Parteien die bessere Gestaltung der Einheit zutrauen, die sie gar nicht mehr gewollt und für die nächsten 100 Jahre auch abgeschrieben hatten?

Den WählerInnen war offensichtlich deutlicher bewußt, daß die von den Grünen noch 1990 vertretene Zweistaatlichkeit den SED-Unterdrückungsapparat stützte und den Demokratisierungsprozeß behinderte. Innerhalb der Grünen hatte im Laufe der Jahre die SED-freundliche Haltung zunehmend an Boden gewonnen. Während es zum Beispiel 1983 in der AL noch einen breiten Konsens gegeben hatte, im Kampf gegen die Atomrakten auch die sowjetischen SS 20 einzubeziehen, durfte bei der zentralen Kundgebung der Friedensbewegung schon kein Vertreter der »unabhängigen« DDR- Friedensbewegung mehr reden, um den »Entspannungsprozeß nicht zu stören«. BürgerrechtlerInnen wie Ulrike und Gerd Poppe mußten zur Kenntnis nehmen, daß die sie stützenden Grün-Alternativen wegen der Einreiseverbote immer seltener kamen und durch andere ersetzt wurden, die die sattsam bekannten SED- Positionen runterleierten und das Engagement der BürgerrechtlerInnen bestenfalls als »moralisch vertretbar, objektiv aber schlicht konterrevolutionär« abqualifizierten. Die Namen von nur wenigen Grün- Alternativen waren auf den Solidaritätsresolutionen für Solidarność, Charta 77 und die Umweltbibliothek zu finden.

Nun mag das für die WestlerInnen vielleicht Schnee von gestern sein. Nur diejenigen, die unter der fehlenden Solidarität materiell, physisch und psychisch leiden mußten, haben offensichtlich — und wie ich finde, zu Recht — ein längeres Gedächtnis.

Für die Beibehaltung der Zweistaatlichkeit und gegen den »Anschluß unter dieser Nummer« war allerdings auch das Bündnis 90. Man wollte die Zweistaatlichkeit nutzen, um einen Demokratisierungs- und Emanzipationsprozeß in Gang zu setzen. Eine entsprechende Argumentation wird auch heute noch vertreten, wenn es um das gemeinsame Bundesland Brandenburg-Berlin oder die gemeinsame Organisation von Bündnis 90 und Grünen geht.

Bei der Aufarbeitung der Wahlniederlage geht es nicht darum, die Schlachten von gestern zu schlagen. Auch ich habe die Unterdrückung in der DDR nicht scharf genug kritisiert und zum Beispiel das Wort Diktatur gemieden oder die Auflösung der Erfassungsstelle in Salzgitter gefordert. Notwendig ist aber, aus heutiger Sicht die damaligen Fehleinschätzungen konkret zu benennen.

Unakzeptabel ist es, wenn sich langjährige Aktivisten der Zweistaatlichkeit bei der Darstellung vergangener Positionen in den passiven Wortschatz flüchten oder den unpersönlichen Begriff »man« wiederentdecken. Ganz uneitel wird die eigene Verantwortung übersehen.

Wenn der damalige deutschlandpolitische Sprecher der AL, ALbert Stolz, heute die eigene Einäugigkeit mit dem Mißtrauen gegenüber der Einäugigkeit früherer K-Gruppen- Mitglieder begründet (Stachlige Argumente 1/92) drückt er sich vor der Wahrnehmung seiner eigenen Verantwortung. Die Frage muß doch sein, warum die Grünen die Tradition von Ernst Bloch, Ingeborg Drewitz und Rudi Dutschke, die kompromißlos die Menschenrechte einforderten, nicht fortgeführt haben.

Nun ist niemand davor gefeit, Fehler zu machen — das macht uns ja alle so menschlich und sympathisch. Aber: Gesundbeterei, Verdrängung, Geschichtsklitterung potenzieren die Fehlentscheidung von gestern und transportieren sie in die Zukunft. Die falsche Deutschlandpolitik war wesentliche Ursache für das Wahldebakel der Grünen und der AL. Sie darf nicht abermals zur Trennungslinie zwischen Bündnis 90 und den Grünen werden.

Solange von den Protagonisten des deutschlandpolitischen Irrtums keine Selbstkritik formuliert wird, die über das »da sind Fehler gemacht worden« hinausgeht, so lange wird es Vorbehalte der ehemaligen DDR- Dissidenten gegenüber den Grün- Alternativen geben. Michael Cramer