INTERVIEW
: „Keine Abschwörformeln nötig“

■ Die niedersächsische Justizministerin Heidi Alm-Merk zur Roten Armee Fraktion (RAF) und den Gesprächen über vorzeitige Haftentlassung

taz: Über die vorzeitige Entlassung von RAF-Gefangenen gibt es eine erregte Debatte. Warum nennen Sie solche Entlassungen schlicht „Übergang zur Normalität“?

Heidi Alm-Merk: Für terroristische Gefangene hat es über Jahre Haftsituationen gegeben, die nicht der Normalität, nicht dem normalen Strafvollzug entsprachen. Ich begrüße es daher, wenn selbst der Bundeskanzler erwartet, daß diese Gefangenen so zu behandeln sind wie alle anderen. Auch die Prüfung einer bedingten Entlassung von RAF-Gefangenen ist ein normaler Vorgang, auf den man nicht aufgeregt reagieren sollte.

Wie wird sich dieser Vorgang vollziehen, welche Regeln gelten?

Zuständig für die Prüfung sind die Oberlandesgerichte, die die betreffenden Gefangenen verurteilt hatten. Sie haben die Vollstreckung einer lebenslangen Strafe zur Bewährung auszusetzen, wenn davon 15 Jahre verbüßt sind; wenn nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten eine weitere Vollstreckung gebietet und wenn verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Vollzuges keine Straftaten mehr begehen wird. Außerdem muß der Verurteilte selbst in die Strafaussetzung einwilligen.

Wieso brauchte es vor diesem gesetzlich vorgeschriebenen Vorgang denn nun eine Debatte auf der Justizministerkonferenz?

Die Justizminister tauschen sich in Abständen immer wieder über das Thema Terrorismus aus. Natürlich gibt es unter ihnen unterschiedliche Auffassungen, und in diesen Diskussionen wird nach einer gemeinsamen Linie gesucht. Das geht etwa bis zu der Frage, ob RAF-Gefangene Journalisten Interviews geben dürfen. Bei solcher Gelegenheit kamen auch die ohnehin anstehenden Aussetzungsprüfungen zur Sprache.

Wieso müssen dann für diesen so normalen Vorgang heimliche Gespräche zwischen der Bundesanwaltschaft und Verteidigern der Gefangenen geführt werden?

Wenn man will, kann man dies als ungewöhnlich bezeichnen. Natürlich haben auch die Anwälte Strategien. Es ist ja bekannt, daß sie sich ab und zu treffen. Wenn es nun Überlegungen gibt, mehrere Gefangene zu entlassen, ist es doch naheliegend, die jeweiligen Anwälte auch anzusprechen. Diese vertreten schließlich ihre Mandanten.

Auf der Justizministerkonferenz spielte auch die Befürchtung eine Rolle, es könnte zu weiteren Anschlägen kommen.

Darüber möchte ich mich nicht äußern.

Glaubt denn eine Mehrheit der Justizminister, daß vorzeitige Entlassungen weitere Anschläge vermeiden helfen könnten?

Das ist tatsächlich schon fast eine Glaubensfrage. Sicher scheint für mich, daß es der RAF gerade über die Frage der Haftbedingungen gelungen ist, junge Menschen in ihr Umfeld zu ziehen und an sich zu binden. Ob Strafaussetzungen letztlich zur Befriedung beitragen, ist immer noch strittig. Ich persönlich sehe hierin zumindest einen gangbaren Weg, auch wenn ich dessen Erfolgschancen nicht endgültig zu beurteilen vermag. Entscheiden über Aussetzungen müssen die Gerichte.

Vor allem im Süden der Republik zieht man aus solchen Überlegungen den Schluß, nun zeige sich der Staat erpreßbar.

Der Staat macht sich doch nicht erpreßbar, wenn die zuständigen Organe zur rechten Zeit einen Blick in das Gesetzbuch werfen!

Welchen Einfluß haben die Regierungen, im Ressort des „versöhnungsbereiten“ Bundesjustizministers etwa die Bundesanwaltschaft, überhaupt auf Entlassungsentscheidungen?

Der Einfluß auf diese Verfahren ist nicht sehr groß. Allerdings ist die Bundesanwaltschaft als zuständige Strafvollstreckungsbehörde an der Aussetzungsprüfung beteiligt. Sie hat rechtlich begründete, sachdienliche Anträge zu stellen, über die die Gerichte entscheiden. Die derzeitige politische Diskussion sollte aber nicht als Einflußnahme auf die rechtliche Prüfung bei den Gerichten mißverstanden werden.

Entscheidend für die vorzeitige Entlassung ist doch die Prognose über das künftige Leben des Gefangenen in Freiheit. Spielt es da nicht eine große Rolle, welche Gutachter die Bundesanwaltschaft dabei beauftragt?

Nicht nur die Strafvollstreckungsbehörde, auch die Verteidiger können Gutachter bestellen. Und schließlich hat auch das Gericht bei dem Thema ein Wörtchen mitzureden. Außerdem ist der Gutachter, egal wer ihn beauftragt hat, zur Objektivität verpflichtet und in seinem Urteil unabhängig.

Welchen konkreten Einfluß hat Niedersachsen, wenn über die vorzeitige Haftentlassung der drei in Celle einsitzenden Gefangenen aus der RAF entschieden wird?

Direkten Einfluß haben wir nicht. Nach dem Strafvollzugsgesetz haben wir Vollzugspläne für die Gefangenen zu erstellen, nach denen nicht nur die Entwicklungen der Gefangenen beurteilt werden, sondern auch deren tatsächliche Fortschritte hin zu einer Resozialisierung. Natürlich sucht die Anstalt über ihre Bediensteten normalen Kontakt, wie bei jedem anderen Gefangenen auch. Die Gesamteindrücke sollen es letztlich ermöglichen, auch von unserer Seite für das Gericht eine Prognose abzugeben, ob der Gefangene nach einer Entlassung von Gewaltanwendung Abstand nimmt.

Muß in Niedersachsen ein Gefangener aus der RAF für eine positive Prognose seiner politischen Vergangenheit abschwören?

Das Gesetz spricht nicht vom Abschwören. Es verlangt neben den schon eingangs erwähnten Voraussetzungen eine Sozialprognose darüber, ob der Gefangene zukünftig ein straffreies Leben führen wird. Zwischen diesem künftigen straffreien Leben und dem bisherigen, in dem Straftaten begangen wurden, besteht zwar ein Zusammenhang, doch es ist nicht die Aussage notwendig: „Hiermit schwöre ich ab“. Es kommt nicht auf Abschwörformeln an, die ja auch Lippenbekenntnisse sein könnten, das Gesamtverhalten des Gefangenen ist zu beurteilen.

Entscheidend ist demnach die Vorstellung der Gefangenen von einem künftigen Leben in Freiheit, nicht die Haltung zur Vergangenheit.

Die Zukunftsperspektive ist der entscheidende Aspekt. Die Prognose ist kein erneutes Urteil über die zurückliegenden Taten, sie hat die Chancen eines künftigen straffreien Lebens zu beurteilen. Diese Prognose wird allerdings erleichtert, wenn sich jemand überzeugend von seinen Taten distanziert hat.

Sie haben soviel von Normalisierung gesprochen, welche Schritte in diese Richtung ist Niedersachsen in der JVA Celle bisher gegangen?

Ich habe mich von vornherein um regelmäßige Gespräche zwischen der Anstaltsleitung, den Bediensteten und den drei Gefangenen bemüht. Das ist inzwischen Normalität geworden. Man ist heute in der Lage, kritisch miteinander zu kommunizieren. Die Gefangenen haben auch zwei Besuchergruppen, mit denen sie diskutieren. Ergebnisse dieser Kontakte kann ich nicht diktieren, die müssen sich entwickeln. Es ist aber ein Weg gefunden, nicht schweigend aneinander vorbeizugehen. Jürgen Voges