Stammheim-Atmosphäre in Koblenz

Ex-RAF-Mitglied Inge Viett vor dem Staatsschutzsenat des Koblenzer Oberlandesgerichts/ Die Angeklagte gehört zu den RAF-AussteigerInnen, die in der DDR Unterschlupf fanden/ MfS-Kontakt über „eine normale Telefonnummer aus dem Telefonbuch“  ■ Von Thomas Krumenacker

„Wir planen kein neues Stammheim“, hatte Generalbundesanwalt Alexander von Stahl noch kurz nach der Verhaftung ehemaliger RAF- KämpferInnen in der Ex-DDR im Sommer 1990 erklärt. Im Koblenzer Prozeß gegen die RAF-Aussteigerin Inge Viett inszeniert sich der Staat trotzdem in gewohnter Manier. Stacheldrahtverhaue umsäumen das weiträumig abgesperrte Gerichtsgebäude, Panzerglasplatten vor den Fenstern nehmen jedes Licht, und vor der Fensterfront des Gerichtssaales wurde eigens eine Betonwand hochgezogen. Im Gerichtssaal beäugen die Herren des Staatsschutzes mehr oder weniger dezent die wenigen ProzeßbeobachterInnen.

Daß dieses Prozeßritual auf sie zukommen würde, war Inge Viett wohl spätestens nach der Verhaftung ihrer Ex-Mitkämpferin Susanne Albrecht am 6.Juni 1990 in Ost-Berlin klar. „Ich wußte, daß die Verhaftung kommen wird“, beschreibt sie vor dem Staatsschutzsenat des Koblenzer Oberlandesgericht ihre Situation nach dem Zusammenbruch der DDR. Dort hatte sie zunächst in Dresden und seit 1986 in Magdeburg gelebt. Anders als wohl für andere zu Beginn der 80er Jahre in die DDR übergesiedelten RAF-AussteigerInnen war die DDR für Inge Viett mehr als ein bloßes Exil.

Zwar noch „weit entfernt von der Realisierung ihres gesellschaftlichen Anspruchs“, sei dieses Land dennoch „der bessere Teil Deutschlands, humaner, sozial, gerechter, gemeinschaftlicher und den Idealen des guten Menschen mehr zugewandt als den Gesetzen der Wölfe“, wie sie nach der Verhaftung in einem Abschiedsbrief an ihr Arbeitskollektiv schrieb.

Detailliert beschreibt sie dem Gericht ihren Lebenslauf. Aufgewachsen im Heim und bei Pflegeeltern in einem Dorf, wo man sich auch nach 1945 noch mit „Heil Hitler“ grüßte, erfuhr sie immer wieder das, was für sie immer auch Bestandteil von Faschismus ist: „Ausbeutung, Ausnutzung, Geringachtung der Schwachen.“ Sie erlebte deutschen Rassismus, als sie einen schwarzen Freund hatte, Verachtung ihr, dem „Waisenkind“ gegenüber in der Schule „für bessere Töchter“ und „die Unterwerfung der menschlichen Anständigkeit unter die gnadenlosen Gesetze des Marktes“, wie sie es in ihrem Abschiedsbrief formulierte.

Als Schlüsselerlebnis für die Entscheidung zum bewaffneten Kampf zunächst in der „Bewegung 2.Juni“ und später in der RAF wurde für sie eine mehrmonatige Reise nach Afrika. Hungertod und Ausbeutung auf der einen, Luxus und Überfluß in den pompösen europäischen Hotels auf der anderen Seite ließen sie damals nach eigenen Worten für sich die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes erkennen.

Als der 2.Juni sich 1979 mit der RAF zusammenschloß, ging sie mit. Sie selbst stieg 1983 aus, als sie zu der Überzeugung gelangt war, daß der bewaffnete Kampf sinnlos geworden sei, weil er nicht auf die breite Unterstützung der Bevölkerung zählen konnte.

Was PolitikerInnen und SchreiberInnen von einer „teuflischen Verbindung“, „perverser Kombination“ oder einfach von einer mafiös anmutenden „Stasi-RAF-Connection“ sprechen ließ, hatte Inge Viett maßgeblich mitorganisiert: Den Ausstieg ehemaliger RAF-Mitglieder in die DDR und die Kontakte zur Stasi.

Den ersten Kontakt zum MfS bekam Inge Viett bei der Einreise in die DDR 1978. Wegen ihrer falschen Papiere wurde sie bei der Paßkontrolle aufgehalten und mit einem Stasi-Offizier bekanntgemacht. Diese Begegnung wurde zum Auftakt eines bis etwa 1984 dauernden Kontakts zwischen RAF und MfS. „Regelmäßig, mehrfach jährlich“ gab es Treffen in der DDR, so ein Stasi-Zeuge.

Die Stasi habe den bewaffneten Kampf von Anbeginn an als „Form des politischen Kampfes“ abgelehnt und davon abgeraten. Die wegen gemeinsamer „antiimperialistischer Ausrichtung“ aber dennoch beim ersten Treffen zugesagte Unterstützung bewies das MfS mit der geduldeten Einreise des befreiten Till Meyer schon kurze Zeit später. Als es dann 1980 um eine Unterbringung der aussteigewilligen GenossInnen ging, habe sie „über eine normale Nummer aus dem Telefonbuch“ Kontakt mit dem MfS aufgenommen, um dort Hilfe für die Suche nach einem Aufnahmeland anzufordern.

Der Vorschlag, die Aussteiger in der DDR unterzubringen, sei von der Stasi gekommen. Ihr selbst wäre dieser Gedanke „überhaupt nicht in den Kopf gekommen“, schildert Viett das, was Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt schon im Sommer als „kleinen Ausschnitt der Internationalismuswirklichkeit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre“ beschrieben haben. „Weder im materiellen Inhalt noch in unserem Denken war der DDR-Kontakt der außergewöhnliche, für Befreiungsbewegungen sind Kontakte mit sozialistischen und blockfreien Staaten immer Teil ihrer Politik gewesen.“

Einblicke in diese — wie Brigitte Mohnhaupt schrieb — „ja nur an einem Punkt sichtbar“ werdende politische Wirklichkeit, in der sich die RAFlerInnen bewegt haben, geben vor allem die zahlreichen Stasi-Zeugen. Sie hätten nicht gewußt, mit wem sie es zu tun gehabt hätten, entlastet sich etwa Ex-Stasi-Hauptmann Lindner, der das Schießtraining betreute. Gegenleistungen für die militärische Ausbildung der Aktiven und die Integration der AussteigerInnen habe es keine gegeben, schildern alle übereinstimmend. „Stets und ständig“ habe das RAF-Kollektiv auf seiner Autonomie beharrt, über Anschläge sei immer erst im Nachhinnein geredet worden, meinte ein Stasi-Mann.

Ob das von der Stasi gewährte Übungsschießen mit einer Panzerfaust vor oder nach dem RAF-Anschlag stattfand, ob es also möglicherweise eine Vorbereitung für Aktionen gab, ist unklar. Stasi-Hauptmann Lindner datiert das Schießen wie Inge Viett vor den Anschlag, Protokolle des MfS und inhaftierte RAFler auf das Frühjahr 1982. Für Lindner ist klar, „daß wir möglicherweise in Richtung eines Anschlags eine Ausbildung gegeben haben“, wie er „baff und echt betroffen“ nach dem Anschlag erkannt habe. Für die Klärung solcher Fragen hat sich das Gericht mehr Zeit genommen, als ursprünglich geplant war. Der Prozeß wurde erst einmal verlängert.

Die Bundesanwaltschaft wirft Inge Viett im Koblenzer Prozeß neben „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ vierfachen versuchten Mord vor: am 4.August 1981 schoß sie — wie sie bereits gestanden hat — auf einen Pariser Polizisten, vor dem sie zunächst geflüchtet war. Er wurde schwer verletzt. Die übrigen drei ihr zur Last gelegten Mordversuche stehen in Zusammenhang mit dem fehlgeschlagenen RAF-Attentat auf den damaligen Nato-Oberkommandierenden Alexander Haig am 25.Juni 1979 bei Obourg/Belgien. Viett soll laut BAW an „Planung und Vorbereitung“ des Anschlags teilgenommen und eine Maschinenpistole für die Aktion bereitgestellt haben.

Sämtliche Zeugen des Prozesses, Silke Maier-Witt, Susanne Albrecht, Henning Beer und Werner Lotze, entlasteten sie jedoch. Viett selber gibt zu, vor dem Attentat in einer konspirativen Wohnung in Brüssel gewesen zu sein, um Stempel zum Fälschen von Dokumenten zu übergeben. Die MP habe sie schon ein Jahr zuvor an die RAF übergeben.

Wegen der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz 1975, des Wiener Industriellen Michael Palmers und der Befreiung Till Meyers aus dem Moabiter Knast wird eine gesonderte Anklage vorbereitet.