Die neue Liebe zwischen Russen und Deutschen

■ Der Gießener Professor Horst-Eberhard Richter referierte im Russischen Haus der Kultur seine sozialpsychologische Untersuchung über die Bilder beider Völker voneinander/ Ist die russische Leidensfähigkeit positiv oder ein Klischee?

Mitte. Schon im gemischt russisch- deutschen Publikum verkörperte sich das Thema des Abends. Im ehemaligen Sowjetischen Haus der Wissenschaft und Kultur referierte Horst-Eberhard Richter, Professor der Sozialpsychologie und Psychiatrie aus Gießen, am Wochenende die Ergebnisse seiner Fragebogenuntersuchungen unter deutschen und russischen StudentInnen, die unter dem Titel »Die Russen und die Deutschen« auch als Buch erschienen sind.

Die Idee zu einer vergleichenden Untersuchung sei ihm gekommen, erzählte Richter, nachdem er als Mitbegründer der »Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs« (IPPNW) 1987 an einem von Gorbatschow organisierten internationalen Friedensforum in Moskau teilgenommen hatte. Galina Andrewa, eine Berufskollegin von ihm in Moskau, wies ihn jedoch darauf hin, daß eine repräsentative Befragung im damaligen Vielvölkerstaat Sowjetunion nicht möglich sei. Sie und ihre MitarbeiterInnen schlugen stattdessen vor, eine Studentengruppe der gleichen Fakultät in Moskau und in Gießen miteinander zu vergleichen. Ende 1989, nach dem Mauerfall, wurden dann 1.000 Moskauer und 1.450 Gießener Studierende per Fragebogen um ihre Meinung über das jeweils andere Volk gebeten.

Die Umfrage zeitigte interessante Ergebnisse, auch wenn diese nicht repräsentativ für die sicherlich viel konservativer denkende Gesamtbevölkerung sind. Wie sehr sich das ehemalige Feindbild zwischen Russen und Deutschen inzwischen zu einem Freundbild gewandelt hat, zeigt sich beispielsweise daran, daß zwei Drittel der Befragten in Moskau und 90 Prozent in Gießen »großen Optimismus« im Hinblick auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern hegen.

Die Resultate geben aber auch einigen Aufschluß über den »Volkscharakter« der Russen und der Deutschen, der in Wirklichkeit jedoch eher ein kapitalistisch oder realsozialistisch geprägter Systemcharakter zu sein scheint. Die Deutschen zeigten sich im Selbstportrait eher zwanghaft, ordentlich, zurückhaltend, kontrolliert, aber auch eigensinnig und durchsetzungsfähig, während die Russen sich selbst eher gefühlsbetont, locker, impulsiv, aber auch anpassungsbereit und fügsam sahen. Die Moskauer sahen sich in der Selbsteinschätzung eher schlechter, als sie sind, die Gießener eher besser.

In beiden Gruppen ähnlich war die kritische Einstellung zur Politik im eigenen Land und die unkritischere zu der im anderen Land. Während 44 Prozent der Deutschen glaubten, hier würde nur schlecht für soziale Gerechtigkeit gesorgt, meinten dies nur 16 Prozent der Russen. Danach befragt, wie in ihrem eigenen Land für alte Leute sowie für Kinder gesorgt würde, antworteten 74 bzw. 70 der deutschen und 85 bzw. 71 Prozent der russischen StudentInnen, für diese Menschen werde »zu wenig« getan. Bei der »Frauenfrage« gehen die Meinungen allerdings viel weiter auseinander: 78 Prozent der deutschen und nur 49 Prozent der russischen Befragten meinten, Frauen würden gesellschaftlich benachteiligt.

Einen erstaunlichen Gleichklang ergab dann aber wieder die Frage, ob die Auseinandersetzung mit der Stalinzeit bzw. dem Nationalsozialismus wichtig sei: 87 Prozent der Russen und 86,4 Prozent der Deutschen antworteten mit »ja«. Ein Ergebnis, das nach Professor Richter nicht im Widerspruch zu jüngsten Meinungsumfragen wie zum Beispiel im ‘Spiegel‘ steht, da diese deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen ausweisen. »Die dritte Generation nach Hitler«, so Richter, »ist offener und kritischer«.

Höchst unterschiedlich aber sind die Erwartungen an die Zukunft. Obwohl sich beispielsweise 90 Prozent der Gießener und 75 Prozent der Moskauer Sorgen um die Schädigung der Umwelt durch Chemie und Technik machten, zeigten sich nur 25 Prozent der deutschen Studierenden, aber 49 Prozent der russischen »eher optimistisch«, was die Zukunft der Menschheit anbelangt.

Für die Gesprächsmoderatorin Irina Hermlin, russische Ehefrau des Dichters Stephan Hermlin, war das ein Zeichen dafür, »daß die Russen sagen, wir haben schon so viel Schlimmes erlebt, irgendwann muß doch mal eine bessere Zukunft kommen«. Die deutsche Gesellschaft hingegen sei »sehr labil«, weil einzig auf Wohlstand gegründet, während die sprichwörtliche russische Leidensfähigkeit einfach zum Überleben notwendig sei.

Einem zuhörenden Mitarbeiter der Ausstellung »Topographie des Terrors« lief da »die Gänsehaut herunter«: Diese angebliche Leidensfähigkeit sei ein einziges Klischee, das einstmals zur Rechtfertigung des »Rußlandfeldzuges« gedient habe. Psychotherapeut Richter jedoch widersprach: Diese hiesige Fitness- Manie sei oft nur Verdrängung, während Leidensfähigkeit und das Zulassenkönnen von Depressivität »eine große Stärke« sei, von der man viel lernen könne.

Schnell war man bei allgemeinen Menschheitsfragen angelangt. Seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus grassiere der Zynismus, beklagte Horst-Eberhard Richter. Humanisten würden als Schwärmer und Utopisten niedergemacht, tiefe Resignation mache sich breit. Selbst die Katastrophe von Tschernobyl und der Golfkrieg hätten noch nicht genügt, um den Wahnsinn der gegenwärtigen Weltentwicklung deutlich zu machen.

»Das ist doch ganz einfach«, antwortete hier nicht minder resigniert der Zuhörer und Schriftsteller Stefan Heym, »der Kapitalismus hat mehr Waren unter die Leute gebracht, also gilt er als das bessere System. Solange wir nichts besseres entwickeln, werden wir kein Glück haben«. Ute Scheub