GASTKOMMENTAR
: Autistische Aura

■ Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrtausends gab es in der SPD nur einen, der den Biß hatte, Wahlen zu gewinnen. Und der heißt sicherlich nicht Björn Engholm

Es ist Winterzeit. Die Oppositionsparteien haben ihre schwarzen Samthandschuhe angelegt. Die Ministerpräsidenten haben sich tief in ihre kleinen Fürstentümer eingekuschelt. Nur manchmal steckt einer sein rotes Näschen hervor, stapft durch den Schnee und kommt mit einer dampfenden neuen Idee zurück.

Was ist bloß los mit den Sozialdemokraten? Die Welt gerät aus den Fugen und aus dem Gleichgewicht. Die ehemaligen Supermächte stehen Schlange zum Abdanken. Die europäische Politik schwankt gefährlich zwischen Konzeptlosigkeit und Panik angesichts der Zusammenbrüche ganzer Volkswirtschaften im Osten und der durch sie ausgelösten Völkerwanderungen und Bürgerkriege. Die Deutschen (Ost) exerzieren gerade das staunenswerte Gesellschaftsexperiment des Offenlegens der Vergangenheit zweier politischer Generationen — mit all ihren Peinlichkeiten, aber auch mit ungeahnten Chancen.

Und die deutsche Sozialdemokratie? Sie leistet sich derweil den Luxus, epochenverschoben alle Stadien der grünen Kinderkrankheiten zu durchlaufen: die Wadenbeißerei, die Unregierbarkeit der Organisation, die explodierenden Egos, die Bürokratisierung des Apparates, die Miefigkeit des Mittelmaßes, die eigensüchtige Rechthaberei der Honoratioren, den Kannibalismus gegenüber den besten Talenten. Seid Ihr denn noch recht bei Trost, Genossen?

Björn Engholm hat zweifelsohne die Mehrheit der Partei hinter sich. Parteien mögen brave Kinder und Opferlämmer. Trotzdem wußte er zu Recht, warum er zögerte. Denn was Björn Engholm so wählbar für die Partei macht, hat ihn jetzt schon zum Verlierer gestempelt. Er kann außerhalb von Schleswig-Holstein keine Mehrheit kriegen. Dagegen steht seine autistische Aura. Dagegen steht sein nordischer Adrenalinspiegel. Dagegen steht — nebenbei gesagt — der einfache Vergleich zu Helmut Kohl, dessen Gesicht ich hätte sehen mögen bei dieser Nachricht. Jeder im Lande weiß das. Weiß es die Partei nicht? Hat sie allein nicht das Aufstöhnen im deutschen Blätterwald gehört? Warum also nötigt sie ihren Chef, als sei er ihr letzter Parteirekrut?

Herbert Wehner, der alte Knötterpott, war ein unverbesserlicher Optimist, als er der SPD eine 12jährige Oppositionszeit auf Bundesebene voraussagte. Zu früh gehofft. Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrtausends gab es in der SPD nur einen, der den Biß hatte, Wahlen zu gewinnen — auch nach Niederlagen. Man muß nicht dessen Freund sein, sondern nur zwei und zwei zusammenzählen, um auf Oskar Lafontaine zu kommen. Nur ihm war zuzutrauen, die abdriftende Gesellschaft noch einmal ernsthaft für die Politik zu interessieren. Im entscheidenden Moment aber, bei jener unsäglichen Präsidiumssitzung, als Jochen Vogel ihm den Parteivorsitz antrug und Lafontaine ablehnte, schlug Hintertupfingen gnadenlos zu.

Die SPD hat nicht die Größe, ihrer letzten charismatischen Begabung diese Todsünde gegen die Parteiraison zu verzeihen. Oskar Lafontaine fand nicht den Ausweg aus jener tiefsitzenden Kränkung einerseits und den Toskana-Allüren andererseits. Die Partei wiederum hat zwar viele Funktionäre, aber keine Menschen für die Beziehungsarbeit in solchen Menschenkonflikten. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für Willi Brandt gewesen. Der hatte Wichtigeres zu tun.

Es könnte einem egal sein. Schlimmeres kommt ja nicht dabei heraus als das große Weiterso. Weiter so in der satten CDU, weiter so in der trostlosen FDP, weiter so bei den dahindümpelnden Grünen. Wenn es nicht so entsetzlich langweilig wäre, und so klaftertief unterhalb der historischen Möglichkeiten deutscher Politik. Antje Vollmer