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INTERVIEW»Große Koalitionen sind innovationsfähig«

■ Der Politologe Richard Stöss zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über große Koalitionen/ »In Berlin sieht es eher düster aus«

Ein Jahr nach ihrer Bildung ist die Unzufriedenheit mit der großen Koalition im Senat groß. Liegt die Unbeweglichkeit in der Natur derartiger Elefantenhochzeiten? Die taz fragte den Politologen Richard Stöss, Professor am Otto-Suhr-Institut.

taz: Schon vor den letzten Wahlen in Berlin gab es immer wieder Rufe nach einer großen Koalition. Sind derartige Regierungsbündnisse nur das Produkt bestimmter Mehrheitsverhältnisse, oder korrespondieren sie auch mit gesellschaftlichen Grundstimmungen?

Richard Stöss: Beides trifft zu. Große Koalitionen sind ja Regierungsformen, die in Deutschland gang und gäbe sind. In der Bundesrepublik gab es bisher in Bund und Ländern insgesamt 179 Regierungsbildungen, davon waren 36 große Koalitionen. Also 20 Prozent. Diese Koalitionen wurden nicht nur aus wahlarithmetischen Gründen gebildet, wie jetzt in Berlin. Teilweise hatte das auch politisch-strategische Gründe. Gerade in schwierigen Zeiten — mit wirtschaftlichen, sozialen oder außenpolitischen Problemen — meinen die Parteien manchmal, sie kämen mit einer derartigen Elefantenhochzeit am besten über die Runden. In Berlin gab es das besonders häufig. Hier hat es seit dem Krieg insgesamt 17 Regierungsbildungen gegeben. Davon waren acht große Koalitionen. Von 1946 bis 1963 wurde die Stadt durchgängig von großen Koalitionen regiert.

Erfüllen sich denn die Erwartungen von Politikern, die hoffen, mit großen Koalitionen große Probleme lösen zu können?

Das ist die spannende Frage. Es gibt Untersuchungen über einige große Koalitionen. Und da hat sich gezeigt, daß das Vorurteil falsch ist, diese Regierungen seien nicht innovationsfähig. Ganz im Gegenteil. Ein gutes Beispiel ist die große Koalition in Bonn 1966 bis 1969. Die wesentlichen Reformschritte, die später die sozialliberale Koalition verwirklicht hat, sind unter der großen Koalition eingeleitet worden. Solche Reformschritte spielen sich vor allem auf ministerieller Ebene ab, gar nicht so sehr im Kabinett selbst.

Woran liegt diese Reformfähigkeit? An der breiten Mehrheit?

Wichtig ist vor allem, inwieweit die koalierenden Parteien politisch auseinander sind. Wenn Sie gemeinsame Ziele haben und wenn das entsprechende Geld dafür da ist, sind das optimale Rahmenbedingungen für die Arbeit und die Reformfähigkeit. Das ist natürlich in Berlin zur Zeit beides in dem Maß nicht vorhanden...

In Berlin blockieren sich zur Zeit SPD und CDU mit ihren unterschiedlichen Ansätzen, beispielsweise in der Verkehrspolitik.

Spontan würde ich Ihnen recht geben. In den wichtigsten Bereichen — Verkehrspolitik, Wohnungspolitik, bei der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse in den beiden Stadthälften — habe ich auch den Eindruck, daß sich im Augenblick nicht viel bewegt. Da dürfte die Bilanz eher düster aussehen. Zumindest laut Umfragen ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung ziemlich groß. Man müßte jetzt natürlich untersuchen, inwieweit Schritte eingeleitet wurden, die sich vielleicht erst in zwei, drei Jahren auswirken. Es ist wenig sinnvoll, Koalitionen schon nach einem Jahr zu analysieren.

Wirkt es sich negativ auf die Arbeit großer Koalitionen aus, daß beide Parteien in dem Bewußtsein reingehen, daß es ein Bündnis auf Zeit ist? Führt das nicht zu einem Profilierungszwang für beide Seiten?

Im Gegenteil, das könnte sich positiv auswirken. Das wäre doch schön, wenn sich die jeweiligen Minister oder Senatoren profilieren und in der Konkurrenz innerhalb des Kabinetts ihre Arbeit besonders gut machen. Das scheint in Berlin allerdings nicht der Fall zu sein, jedenfalls habe ich als normaler Zeitungsleser nicht diesen Eindruck. In der großen Koalition in Bonn war das dagegen durchaus der Fall. Da nannte man Kurt Georg Kiesinger immer den blassen Kanzler. Aber in den einzelnen Ressorts passierte eine ganze Menge, natürlich mit Blick auf die Wahlen im Jahr 1969. Hier in Berlin kann ich hingegen nicht erkennen, daß sich irgend jemand profiliert.

Liegt das nicht daran, daß die beiden wichtigsten Politiker der SPD — Walter Momper und Ditmar Staffelt — gar nicht im Senat sitzen?

Es liegt sicherlich auch an den Personen, die im Senat sitzen. Sind das Leute, die durchsetzungsfähig sind, die vor allem auch Konzepte haben? Und ein Grund mag sein, daß die Berliner CDU dem Bund gegenüber nicht deutlich genug auftritt.

Ein klassischer Kritikpunkt an großen Koalitionen ist der Bedeutungsverlust des Parlaments. Der einzelne Abgeordnete auch in den Regierungsfraktionen ist unwichtig, weil die Mehrheit ohnehin sicher ist...

Dieses demokratietheoretische Problem ist für mich das entscheidende. Es ist mit Sicherheit so, daß große Koalitionen nicht dazu geeignet sind, die Demokratie zu stärken. Die Logik unseres Systems liegt nun mal im Wechselspiel von Regierung und Opposition. Die Opposition muß auch mal Regierung werden können. Große Koalitionen dagegen lassen die Opposition verkümmern. Die kleinen Oppositionsparteien sind in solchen Konstellationen zwar die eigentlichen Sieger, weil sie eine wirklich gute Profilierungschance haben. Aber insgesamt ist die Erfahrung die, daß große Koalitionen zu verstärkter Parteienverdrossenheit führen, übrigens oft auch zu mehr Rechtsextremismus. Das gilt vor allem dann, wenn diese Regierungsbündnisse nicht leistungsfähig sind. Ich bin absolut sicher, daß die Republikaner in Berlin wieder von einer stärkeren Wählergunst profitieren werden. Bei den Bundestagswahlen 1969 hatte die NPD 4,3 Prozent. Deshalb sollten große Koalitionen wirklich nur in Extremsituationen geschlossen werden. Interview: Hans-Martin Tillack

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