„Inkompetente Leute verbreiten Hungergerüchte“

Stellvertretende Leiterin der Moskauer Lebensmittelverwaltung behauptet: Keine Probleme in der Hauptstadt  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?“ Über Julia Sapronowas Gesicht huscht ein vorsichtiges Lächeln. Sie ist eigentlich ein strenger Typ, mit Dutt und hochgeschlossener Bluse. Ein Produkt der sowjetischen Fünfziger durch und durch. Na, ganz einfach, 15 Telefonate, ein Nachmittag, ein halber Vormittag und schon gab sich ein Mitarbeiter der Moskauer Stadtverwaltung einen Stoß und rückte die Nummer raus. Erst wollte sie nicht. Doch dann empfing sie. Julia Sapronowa ist die stellvertretende Leiterin der UMT, der Moskauer Lebensmittelverwaltung. Noch vor vier Monaten verbarg sich dahinter ein Riesengeschwür, dann hieß es abspecken. „Heute“, klagt sie, „müssen wir mit zehn Mitarbeitern 5.000 Geschäfte versorgen.“

Anscheinend geht es glatt. Mögen auch verschiedene Moskauer Politiker immer wieder einen Hungerwinter an die Wand malen, Frau Sapronowa sieht das ganz anders: „Ja, Ende des Jahres sah es schlimm aus. Weder Republiken noch Betriebe lieferten, weil sie die Preissteigerungen abwarten wollten.“ Nach dem 2. Januar habe sich die Lage dann völlig verändert. Sie sei sogar besser als erwartet. Lebensmittelreserven für dreißig bis sechzig Tage würden in Moskau lagern. „Mit Fleisch und gekochter Wurst sind wir bestens versorgt.“ Heute gebe es allerdings ein anderes Problem: „Die Leute kaufen nichts, weil es zu teuer ist. Das Zeug liegt 'rum“, meint sie ärgerlich. Julia Sapronowa hält nichts von der Preisfreigabe — wegen der noch nicht vollzogenen Privatisierung. Jelzins Gegner bedienen sich der gleichen Argumente. Früher hätten die Leute zwei Kilo Wurst gekauft, „heute begnügen sie sich mit 200 Gramm“.

Allmählich gehen die Lieferanten dazu über, Verträge direkt mit den Läden zu schließen. Geschäften, die ihr Warenangebot noch nicht selbständig aufstocken können, greift die Behörde unter die Arme und vermittelt Kontakte. Der Rubel spielt dabei meist keine Rolle. Ware wird gegen Ware getauscht. „Das Gerede über den Hunger..“, meint Sapronowa und setzt von neuem an: „Was ist das überhaupt für ein Hunger? Die Leute haben genug Reis, Makkaroni und Konserven. Frisches Fleisch vielleicht nicht, weil es zu teuer ist. Dann kommt noch die Lebensmittelhilfe aus dem Westen.“ Sie ist immer noch böse. „Und wenn Sie unser Land kennen, dann wissen Sie, daß jeder Reserven für ein bis zwei Monate angelegt hat. Juli Fjodorowna hat recht, bei den meisten biegen sich die Balken unter den Beständen an Nichtverderblichem.“

„Inkompetente Leute verbreiten diese Hungergerüchte“, meint sie. „Und die Medien greifen das dankbar auf.“ Es diene bestimmten politischen Interessen, die sich in Moskau in den Haaren liegen. Welchen? Konkreter möchte sie nicht werden. Es wäre auch schwierig, das Knäuel aus politischen und persönlichen Motiven auseinanderzudröseln. Dennoch, die Moskauer Stadtregierung und Rußlands Führung hätten die Lage im Griff: „Wir wissen genau, in welchem Hafen Fleisch ankommt und auf welchem Bahnhof Öllieferungen erwartet werden.“ Zusätzlich hat Jelzin Moskau noch eine Valutaspritze verpaßt, um Lebensmittel im Ausland zu kaufen. Alles in allem sähe die Lage nicht schlecht aus. Im Gegenteil. Ohne Schwierigkeiten würde man den Frühling erreichen. Wenn es Probleme gäbe, dann nur wegen der Preispolitik. So müßten die Hilfen für Rentner und kinderreiche Familien angehoben werden. Denn auch nach der Privatisierung werde es noch eine Zeit dauern, bis die Preise sich einpendeln.

Frau Sapronowa richtet sich auf und sagt mit resoluter Stimme: „Gegen diese Katastrophenbeschwörer müssen harte Maßnahmen ergriffen werden.“ Julia Fjedorowna ist ein Produkt der 50er Jahre. Aber sie hat recht: „Die einfachen Leute reden nicht vom Hunger, sondern von den Preisen.“