Wenn Spätzünderinnen reden

■ Von den Bemühungen wider das Vergessen zu reden, zu schreiben, zu zeichnen oder zu filmen — über den Film »Aber wir doch nicht«

Früher...« — egal was da folgend aus Erwachsenen- und Rentnermund tönt, es kann eigentlich nur eine (Nicht-)Reaktion bei jüngeren Leuten hervorrufen: taube Ohren und ein stöhnendes »Ich- kann's-nicht-mehr-hören«. Echt wahr, entweder sie verbraten, daß es früher noch keine Orangen gab, schon gar keine Zentralheizung und Autos, zur Schule mußte man mindestens sechs Kilometer zu Fuß laufen, oder es war früher mal wieder alles besser. So war's. Das »andere« Früher — niemand erzählt davon. Die Großeltern sind heute alt und zittrig und die Eltern haben noch in die Windeln gepinkelt, als Adolf aus dem Volksempfänger gehetzt hat. Diese Vergangenheit kommt in den Verwandtschaftserzählungen höchstens als heroisch gefärbte Kriegserinnerungen vor und wird als gelebte Vergangenheit mit unseren Rentnern aussterben. Von den Bemühungen einiger Menschen abgesehen, wider das Vergessen zu reden, schreiben, zeichnen oder zu filmen.

Einen solchen Versuch hat das »Theater der Erfahrungen«, »Spätzünderinnen«, wie sich die Damen zwischen 65 und 85 Jahren selbst nennen, jetzt unternommen. Entstanden ist ein Film über ein Theaterprojekt der Gruppe und über ihre ganz persönlichen Erlebnisse. Es ist ein vorsichtiger Film, der sich mit großer Sympathie an die Frauen herantastet. Die Regisseurin und Theaterleiterin der Gruppe, Johanna Kaiser, ist keine Inquisitorin, sie bohrt nicht hartnäckig in Wunden — sie läßt die Frauen reden, gibt ihnen Zeit zu reden. Es finden sich nebeneinander die Sätze, die so unvereinbar wie hierzulande leider auch üblich sind: »Wir wußten von nichts« und »Jeder wußte was. Mir kann keiner erzählen, er hätte nicht bemerkt, wie Menschen verschwinden«. Solchen Aussagen folgen hitzige Diskussionen, denen die Kamera nur ansatzweise hinterherkam. Ganz bewußt. Ausgelassen wurde schließlich auch, daß eine Frau während der Vergangenheitsbearbeitung die Theatergruppe verließ. Der Film lebt nicht von Sensationen, es sind keine Profis, die reißerische Highlights setzen wollen. Nein, er lebt von seiner privaten Atmosphäre. Mit piepsender Stimme mimt Inka Köhler-Rechnitz ihren Sohn: »Mama, ich will auch einen gelben Stern. Ach, bitte, gib mir doch den Stern von den Zwirnfäden. Mach die Fäden ab. Ich will auch einen Stern.« Das war 1938, der Sohn von Inka Köhler-Rechnitz, damals als »Mischling 1. Grades« kategorisiert, war 3 Jahre. Es sei sein Gespür dafür gewesen, außerhalb dieser »arischen« Gesellschaft zu stehen, aber nicht zu den Verfolgten zu gehören, die sich gegenseitig soviel wie möglich zu helfen versuchten, erklärt die Mutter heute. Und so schmerzhaft es für sie sei, sie will gegen das Vergessen reden.

Diese Schmerzen, die Verdrängungs»kunst« der anderen Frauen, sie sind exemplarisch für die Zustände in diesem Land. Die Erinnerungen wurden in die unterste Schublade gesteckt. Inzwischen scheint die Schublade kaum mehr zu öffnen zu sein. Beispielhaft ist dafür auch die Theatergruppe der »Spätzünderinnen«. Zwölf Jahre machen sie bereits Theater — an »diese« Vergangenheit haben sie sich erst jetzt herangetraut. Mit Schwierigkeiten und weniger angenehmen Erkenntnissen. Der einen Frau waren damals Lippenstift und Wimperntusche wichtiger als die Gespräche über Krieg und Grauen am Tisch ihres (kommunistischen) Onkels, die andere war stolze Vorsitzende des Vereins der Auslandsdeutschen, der in der Hasenheide turnte. Bitter auch die Erkenntnis einer Dritten: »Zum Glück kam ich niemals in die Situation, jemanden denunzieren zu müssen — ich glaube, ich hätte es getan.« Heute sei sie kämpferischer als damals. Eine Spätzünderin eben. Zu hoffen bleibt, daß diese unsere Generation früher zündet. Petra Brändle

Am 4.2. um 20 Uhr im Araquin, Bülowstraße 54. Außerdem kann man das Video beim Theater der Erfahrungen, Cranachstraße 7, Neukölln, 8554378/4206 ausleihen.