„Ich bin 50 und deplaziert“

Anhörung zu Jugendproblemen im Osten geriet zur Farce/ Gewalt im „Gefühlsstau“ geortet  ■ Aus Berlin Annette Rogalla

Daß Jugend selbst bei den Parteien kein Thema ist, die sich basisbewegt und bürgernah nennen, demonstrierte am Samstag in Berlin die Bundestagsfraktion von Bündnis90/ Grüne. Die Anhörung „Jugend — (k)ein Thema in Bonn“ geriet zum Lehrstück über gelangweilte, ignorierte PolitikerInnen. Unisono ließen sie die Anhörung der Experten aus und erschienen, als die Veranstaltung bereits in ihre achte Stunde ging. Köperliche Unpäßlichkeit reklamierte Bundestagsabgeordneter Konrad Weiß; seine Parteikollegin aus Potsdam, die Jugendministerin Marianne Birthler gab Terminnöte an. Außerdem, so Weiß, „bin ich bereits 50 und als Jugendpolitiker deplaziert; aber den Kontext zur Jugend habe ich noch“.

Der Jugendbericht der Bundesregierung, zwei Jahre wurde daran gearbeitet, verschweigt die Existenz von Jugendlichen aus dem Osten der Republik. Aber sie machen gewaltig auf sich aufmerksam. Wo orten Gesellschaftsdiagnostiker die Ost-Jugend? Exakt zwischen Ausgrenzung und Aufbegehren. Hindrek Emrich, Anthropologe und Philosoph am Wissenschaftskolleg Berlin, diagnosiziert bei den unter 25jährigen eine deftige Identitätskrise. Hervorgerufen nicht nur durch die brachiale Anpassung zweier sich diametral entgegenstehender Gesellschaftssysteme, sondern vor allen als Folge von Demütigungsprozessen.

Mit ihren Demonstrationen führten sie die Wende herbei, aber aus den Helden von gestern sind die Sozialfälle von heute geworden — und aller Voraussicht nach sind sie es morgen auch noch. Wie die Hamster bewegen sie sich im Laufrad der Risikogesellschaft: keine Lehrstellen, keine Freizeiteinrichtungen — allein in Leipzig wurden von 80 Jugendklubs 76 dichtgemacht.

Biographien werden weder plan- noch überschaubar, und selbst der stabile Faktor der Eltern-Kind-Beziehung in der ehemaligen DDR ist ihnen bereits abhanden gekommen. Die familiären Spannungen wachsen. Wo Vater und Mutter nicht mehr glaubwürdig sind, weil sie ihre eigene Vergangenheit nicht bewältigen, gehen Familien als Inseln der Geborgenheit unter. Ersatz für die verlorengegangene Identität bieten Jugendgangs.

Ursache für die sich eruptiv entladende Gewalt auf der Straße sieht der Hallensener Psychotherapeut Gerhard Maaz im „Gefühlsstau“. Bei den Rechtsradikalen sei nicht unbdingt „tieferliegender Rassismus“ die Ursache für ihre Menschenjagd auf Nichtdeutsche, vielmehr kloppten sie sich aufgestauten Schmerz und Frust aus dem Leib. Eine geschundene Jugend, die in selbstfinderischer Absicht ihre gewalttätigen Fähigkeiten auslebt? Sozusagen ein Rebirthing mit Toten? Maaz wollte bei der Anhörung der Gewalt keinen Freibrief erteilen: „Selbstverständlich müssen die Jugendlichen ihre Grenzen kennenlernen; da sind staatliche Instrumente gefragt“. Polizei und Richter sollen härter durchgreifen, fordert auch Wilhelm Schmidt, Kinderexperte von der SPD. Daß aber Staatsgewalt keine Jugendpolitik bestimmen kann, darüber war man sich auf der anschließenden Podiumsdiskussion mit Politikern einig. Und der obligatorische Ruf nach mehr Geld für Freizeiteinrichtungen fehlte auch hier nicht. Was werden Politiker vom Bündnis90/Grüne demnächst an jugendpolitischen Forderungen in Bonn vertreten? Vermutlich wenig, ab und an werden sie nach Herabsetzen des Wahlalters auf 16 Jahren rufen. Für Marianne Birthler ist dies eine probate Möglichkeit Jugendliche an der Politik partizipieren zu lassen, denn „verführbar sind auch Erwachsene“. Strohlangweilig und desinteressiert sind sie auch.