Eingefleischt

■ Die erotistische Kunst der Helen Chadwick

Fototermin in der Pathologie. Zwei Hände legen sich um ein blutleeres Menschenhirn. Blumenkohlgroß, zwei Hirnhälften, überraschend leicht und fest. Erstaunt war sie, wie hart ein Menschenhirn ist (wie schwammig, zerfließend, inkonsistent dagegen das Hirn eines Schafs). Helen Chadwicks Hände halten es wie ein frischgeborenes Baby. Zwei Hälften Hirn, von zwei Händen gehalten. Ein Ding, das denkt.

Ein Hirn, aus der harten Schale befreit, von mütterlichen Händen umschmiegt, vor sanftem, faltenwogendem Pastelltuch, klebt als Cibachrome-Dia unter einer augenförmig-ovalen Glasscheibe, oval wie ein Hirn: In die Stirnseite der Galerie gehängt und beleuchtet, ist es ein Gottesbild — vom Ding, das denkt.

Verzückt schaut die Fotografin Helen Chadwick auf ihren Fund aus der Pathologie hinter Glas: „Die ovale Fontanelle eines Schädels“, sagt sie, „enthüllt eine erotische Vanitas.“ Sie meint den Riß zwischen den Hirnhälften. Kindsaugengroßes Staunen über das Wunder der Spalte, das die rechte von der linken Hirnhälfte trennt. Die Chadwick philosophiert, fügt Hermaphrodite zur Unio mystica, wie Biologen es tun, wenn ihnen die Schmeißfliegen unterm Mikroskop als stolze Krieger und wahre Persönlichkeiten erscheinen. Face en face mit den Kreaturen.

Die Engländerin, Jahrgang 1953, Fotografin und Künstlerin, beobachtet und resümiert sehr genau: das Erotische des Körpers, seine sexuellen Symbole, die am Körper sich an nahezu jeder Stelle wiederholen. Der Mund: eine erotische Spalte. Der Hintern natürlich auch. Die Vagina. Jede Narbe wäre nichts anderes als eine wieder jungfräulich gewordene Körperspalte. Überall ist der Körper symbolisch mit erotischer Information gefüllt, geradezu überfüllt.

Erotisches hat sie zunächst in Selbstbespiegelungen gesucht. Sie posierte für ihren eigenen Akt. Die Kamera drehte sich um fleischliche Oberflächen — anfangs noch um solche, die mit Haut bekleidet waren. Helen Chadwick mit Ponyfrisur, die an Künstlerfrauen der zwanziger Jahre erinnert, ist eine obsessive Persönlichkeit. Sie starrte an sich herab, wollte an sich heran. Näher. Helen Chadwick hat sich darum den Schnitt gesetzt. Ihre Obsession der Vaginasymbolik lugt nun aus jedem Riß. Ihr Fleisch ist freigelegt.

Was die Sehnen und Fasern des puren Fleisches an Lücken preisgeben, die sie öffnet, macht weder Schaudern noch atemlos. Sie betrachtet sie mit strengem fotografischem Blick. Das Fleisch ist nicht blutlos, nicht trocken, sondern wie mit Tupfern präpariert, um genauer hinschauen zu können. Es ist, als würde ein Metzger sein Messer so führen, daß er keine Arterie verletzt. Rote Filetstücke füllen zwei große, transparente Fotos, die Enfleshment (Eingefleischtes) heißen: In das Fleisch ist wie in eine Fassung eine Glühbirne gedreht — sie leuchtet elektrisch. Das Fleisch als elektrisches Energiezentrum zu behaupten, da wird's metaphysisch.

Ein Fleischer hat sich für diese Arbeit interessiert, für die feinnervigen Strukturen des Bildes, die Schönheit eines sich selbst beleuchtenden Filets. Aber es geht ans Interpretieren — an das, wovor die Chadwick warnte: mit einer ihrer besten Arbeiten, 1989, als sie einen männlichen Bauchnabel mit einer mikroskopischen Aufnahme von Blut kombinierte und es nannte: The Philosophers Fear of Flesh.

Es war die programmatische Wendung ihrer Arbeit zu ihrer heutigen fotografischen Form. Helen Chadwick wandte sich gegen die Sublimierer unter den Geisteswissenschaftlern: Postulat des Erotismus. Nichts kreist in ihren Texten um eine Idee, alles um den Körper. Nichts um Deutung, alles um den objektiven Blick der Kamera. Ihre glühenden Fleischlampen führen ins Abseits. Vielleicht als Vorübung zur Ironie.

Wo die Chadwick in das Fleisch schneidet, fließt nicht Blut. Da tummeln sich Würmer. Ein Regenwurm windet sich in einer blonden Haarlocke. Quite Contrary (1991), ziemlich gegensätzlich, findet sie. Halbtotes Haarhorn und halbtötendes, aasfressendes Gewürm. Es geht an die Substanz. „Materialität“, proklamiert sie, „ist die Bedingung des Endlichen; die einzig akzeptable Materialität ist die libidinöse...“ Die Libido will sich nicht sublimieren. Hinschauen, um zu begehren...

Helen Chadwick zischt: S/he. Das Fleisch selbst ist geschlechtsneutral. Es ist per se hermaphroditisch. Es ist, wie das sexuelle Verlangen, animalisch. Ein Fleischhof, auf dem sich sprachlos die Lüste sattsehen. Da gibt es keine Geschlechter-Differenzen.

Ihre Kunst ist die Präzision ihres Blicks. Die Fotografie ist „meine Haut“, sagt sie: die Oberfläche, unter der im Dia das Fleisch durchscheint.Arnd Wesemann

Helen Chadwick: Im Fleischgarten. In der Galerie Friedman- Guinness-Gallery, Braubachstr.32, Frankfurt, 18.Januar bis 29.Februar.