Peinliche Lektion für die Politik

■ Zum Urteil des Verfassungsgerichts zur Nachtarbeit von Frauen

Peinliche Lektion für die Politik Zum Urteil des Verfassungsgerichts zur Nachtarbeit von Frauen

Die Karlsruher Verfassungsrichter haben mit ihrem Urteil zur Nachtarbeit von Frauen den Parteien, aber auch den Gewerkschaften und Arbeitgebern wieder einmal eine peinliche Lektion erteilt. Schon seit Gründung der Bundesrepublik war klar, daß dieses Verbot gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Seit Jahrzehnten ist zudem erwiesen, daß regelmäßige Nachtarbeit nicht nur bei Frauen, sondern bei allen Menschen schwere gesundheitliche Schäden verursacht. Dennoch haben beispielsweise die Gewerkschaften das Nachtarbeitsverbot, das paradoxerweise nur für Arbeiterinnen, nicht aber für angestellte Frauen gilt, immer als Teil ihres unveräußerlichen sozialen Besitzstandes verteidigt. Die Ambivalenz von Schutz vor Belastung einerseits, Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt andererseits haben sie nie sehen wollen, weil sie selbst dem nun vom Verfassungsgericht als überholt charakterisierten Verständis der Geschlechterrollen anhingen.

Das Karlsruher Urteil setzt nun eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, den Gleichheitsgrundsatz, an die Stelle eines patriarchalisch begründeten staatlichen Schutzverhältnisses gegenüber den Frauen. Es ist bezeichnend für den hinterwäldlerischen Diskussionsstand quer durch sämtliche politischen Formationen, daß die sozialpolitischen Akteure in der Bundesrepublik erst von den Verfassungsrichtern darauf verpflichtet werden müssen, die von den Nazis 1937 erlassene Arbeitszeitordnung auf demokratisches Mindestniveau zu bringen. Daß dies nun geschieht, werden übrigens besonders jene Frauen in den neuen Bundesländern erleichtert zur Kenntnis nehmen, die bisher schon in Nachtschicht gearbeitet haben und die von einer Ausdehnung des Nachtarbeitsverbots nach Ostdeutschland den Verlust ihres Jobs befürchten mußten.

Zweifellos besteht jetzt zunächst einmal die Gefahr, daß zumindest unter dem Aspekt der Schutznormen eine Nivellierung nach unten stattfindet. Denn das Urteil hat zukünftige Verstöße gegen das Nachtarbeitsverbot außer Strafe gesetzt. Die Unternehmer fordern schon lange die Aufhebung jeglicher Schutznorm, um ihre Maschinen möglichst massenhaft rund um die Uhr auslasten zu können. Dies allerdings wäre mit dem im Karlsruher Urteil ausdrücklich hervorgehobenen Recht auf körperliche Unversehrtheit, das auch im Arbeitsleben zu gelten hat, kaum zu vereinbaren. Die Verantwortung liegt jetzt dort, wo sie hingehört: bei den Politikern. Sie sind aufgefordert, am Beispiel Nachtarbeit eine humane, menschengerechte gesetzliche Regelung durchzusetzen. Der Tendenz nach kann die nur lauten: Niemand darf nachts zur Arbeit gezwungen werden, auch nicht unter dem Druck des Arbeitsmarkts. Denn die Nacht ist zum Feiern oder zum Schlafen da. Martin Kempe