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Der »überzogene Nationalismus« ist schuld

■ Podiumsdiskussion über »nationalistische, rassistische und antisemitische Strömungen in Europa« in der Humboldt-Uni/ Die Experten zeigten sich ratlos

Mitte. Im Rahmen der Vortragsreihe »Das Neue Europa« stand unter Moderation der Berliner Gastprofessorin Margareta Mathiopoulos Dienstag abend in der Humboldt- Universität das heiße Thema »nationalistische, rassistische und antisemitische Strömungen in Europa« zur Debatte. Auch ohne die erkrankten Mitdiskutanten Lea Rosh und Peter Glotz war ein hochkarätiges Podium zusammengekommen, doch das Publikum bekam eher Seichtes zu hören. Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, sah seine Hoffnungen, daß nach der Wende in der DDR »Nationalismus und Rassismus keine Rolle mehr spielen«, angesichts der »beinahe täglichen Übergriffe auf Ausländer« enttäuscht. Aber auch in Polen, Ungarn, der CSFR, Italien, Österreich und Frankreich gebe es heutzutage einen verstärkten Rassismus und Antisemitismus. Doch Galinskis Ursachenerklärung blieb erstaunlich dünn: Ein »überzogener Nationalismus« sei hier am Werk, befand er ganz im Einklang mit den anderen Diskutanten. Im übrigen gebe es in Deutschland ein »zu geringes Engagement der Bürger«, schon während der Reichspogromnacht hätten diese vor der brennenden Synagoge in der Fasanenstraße »die Mäntel hochgezogen« — eine gewißlich richtige, doch zur Erklärung des »neuen Nationalismus« wenig beitragende Beobachtung. Denn daß dieser weder auf Deutschland noch auf Europa beschränkt ist, darauf wies der US-Historiker Peter Hayer hin: Selbst in amerikanischen Unversitätszeitungen sei im letzten Jahr die unselige Debatte über die »Wahrhaftigkeit« des Nazi-Massenmords inszeniert worden, und zwischen den rechtsradikalen Gruppierungen gebe es zahlreiche Verbindungen »über den Ozean«. Die gemeinsame große Furcht in Europa und den USA sei, und da kam er einem Erklärungsansatz schon näher, das Bangen um den eigenen Lebensstandard und die fantasierte »Überschwemmung« der sozialen und politischen Institutionen. Ökonomische Krisen, so Hayes, könnten »gewöhnliche Reibungen in Dämonisierungen verwandeln«. Professor Julius Schoeps, Antisemitismusexperte der Universität Duisburg, stellte für Deutschland »das Auseinandertreten der Erinnerung« der Juden und der Deutschen in den Vordergrund. Für erstere sei der 9. November weiterhin der Gedenktag an die brennenden Synagogen, für letztere der Gedenktag an den Mauerfall. Daß es inzwischen in fast allen europäischen Ländern einen Anteil von rund 15 Prozent der Bevölkerung gebe, der ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild habe, das müsse man »hinnehmen«; viel schlimmer sei, daß laut ‘Spiegel‘- Umfrage jeder achte Deutsche antisemitisch eingestellt sei. Daniel Dagan, Europakorrespondent der israelischen Zeitung 'Ha'aretz‘ hingegen sah in der deutschen Vereinigung nur Positives: »Früher hatten wir zwei deutsche Staaten, die keine normale nationale Identität hatten, sondern stark ideologisch orientiert waren.« Das sei zum Glück vorbei. Der Nationalismus in Osteuropa sei das »Vehikel, um zu Wohlstand und Freiheit zu kommen, und das beste Beispiel ist Deutschland.« Wie aber das von ihm und auch von Galinski so gelobte »gesunde nationale Gefühl« abzugrenzen sei gegen den »überzogenen Nationalismus«, dazu war weder von ihm noch von den anderen auf dem Podium eine Erklärung zu hören. Ute Scheub

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