Warzen sind geheimnisvoll

■ „Der Schätzer“ — ein Film von Atom Egoyan

Zuerst weiß man nicht, was es ist. Es leuchtet schwach, ist länglich, gekrümmt, hat faltige Konturen und bewegt sich. Langsam fährt die Kamera daran entlang, allmählich kann man es erkennen: was da von einer Taschenlampe angestrahlt wird, sind die Finger einer Hand. So seltsam fremd kann Haut aussehen.

Ein Einfamilienhaus auf leerem Grundstück. Die Reihenhaussiedlung, die hier aus dem Boden gestampft werden sollte, ist nicht gebaut worden. Anstelle der anderen Häuser sind nur Prospekte errichtet: große bunte Papptafeln mit aufgemalten Fertighäusern. Das einzige gebaute, bewohnte Haus ist Modell für die anderen — ein Musterhaus zum Besichtigen, inmitten der Vorstadtwüste. Eine Mondlandschaft in Cinemascope.

Atom Egoyan, der Erfinder dieser Bilder, stellt Fragen: „Wann ist jemals schon einer er selbst und fühlt sich wohl in seiner eigenen Haut? Wie definieren wir ,Haut‘ in einer Gesellschaft, wo wir uns daran gewöhnt haben, uns auf Bilder zu beziehen?“ Egoyan ist Filmemacher. Zur Beantwortung der Frage, was Haut ist oder ein Haus, jenseits des Bildes, das wir uns davon machen, kann er auf nichts anderes zurückgreifen als auf eben dieses Bild. Atom Egoyan weiß das; er macht uns nichts vor.

Egoyan ist armenischer Herkunft, in Ägypten geboren, in Kanada aufgewachsen. Amerika, sagt er, ist durch die „frontier“ definiert. Kanada sei der Idee des „territory“ verpflichtet. „Für uns gibt es keine Grenzen, die wir überschreiten könnten; wir haben nur Territorien, die wir durchqueren.“ Es geht darum, woran man sich halten kann. Eine Frage der Orientierung.

Noah Render ist Schätzer. Wenn ein Haus abbrennt, muß er für die Versicherung Listen anfertigen, möglichst vollständige, detaillierte Listen all dessen, was verlorenging: das, was sich von einer Existenz rekonstruieren läßt. Aber Noah Render kümmert sich nicht nur um den verlorenen Besitz, er hat auch ein Herz für die Geschädigten selbst, quartiert sie im Motel ein, ist als Seelentröster und Liebhaber unterwegs. Er ersetzt, soviel er kann. „Alles ist wichtig“, sagt er, wenn die Leute wissen wollen, was denn auf die Liste soll. Das Motel mit seinen kleinen, engen Zimmern paßt nicht recht zum Cinemascope: Klaustrophobie im Breitwandformat.

Hera, Noahs Frau, ist Zensorin. Tag für Tag sieht sie Pornofilme und registriert die Regelverstöße. Auch sie macht Listen und schätzt ein. Anders als Noah muß sie urteilen: Welche Bilder haben Wert und welche nicht? Eine schwere Entscheidung: nachts hat sie Alpträume deshalb. Auch Noah kann oft nicht schlafen.

Noah und Hera wohnen im Musterhaus, zusammen mit ihrem kleinen Sohn und mit Heras Schwester, die aus dem Libanon kommt, Fotos aus der Heimat verbrennt und kein Wort Englisch kann. Nachts schaut sie sich die Pornos an, die Hera bei ihrer Arbeit heimlich aufgenommen hat. Einmal taucht hinter einer der Papptafeln ein zerlumpter Mann auf. Er tritt ans Fenster und onaniert vor den Augen der Schwester. Sie ist schockiert. Die Pornos lassen sie gleichgültig.

Noah und Hera sprechen nicht viel. Jedesmal, wenn Noah am Unfallort ankommt, betrachtet er das brennende Haus, legt die Hand auf die Schulter der Hinterbliebenen und sagt freundlich: „Sie mögen es nicht merken, aber Sie stehen unter Schock.“ Ein Standardsatz. Hera braucht bei ihrer Arbeit gar nichts zu sagen, sie drückt auf die Knöpfe eines kleinen Geräts, von A für Gewaltszenen bis H für Tierquälerei. Sie hält sich an die Richtlinien. Nicht, daß Noah und Hera kein Herz hätten: Sie wissen bloß nicht, was man sonst sagen soll. Manchmal versuchen sie ein Gespräch, zum Beispiel darüber, daß sie nicht schlafen können. Sie stottern dann, zögern, verstummen wieder. „Ich versuche, nicht obskur zu sein“, sagt Egoyan über seinen Film, „ich hoffe zu kommunizieren.“

Noah und Hera sind keine Ordnungsfanatiker. Zwar muß der Schätzer sortieren, aber er tut es nicht mit Leidenschaft, sondern aus Sorgfalt. Den Bewohnern des Motels stattet Noah, der seinen biblischen Namen nicht zufällig trägt, regelmäßig Visiten ab wie ein Stationsarzt seinen Patienten. Egoyan hat zu seinen Filmhelden ein ähnliches Verhältnis: Behutsam, fast schüchtern nähert er sich ihnen. Kein eiliges Vertrautmachen, keine Intimitäten. Vielleicht liegt es auch am Cinemascope-Format, daß die Figuren auf der Leinwand so verloren aussehen.

Zwar deuten die brennenden Fotos, die Pornos, das Musterhaus auf Gewalt hin, auf Tabuverletzung und eine skurrile Horrorwelt. Aber Der Schätzer lehrt einen nicht das Fürchten vor dem, was hinter der Normalität lauert; er macht vielmehr Staunen über die Normalität selbst. Das Unbegreifliche an den Bewohnern des Modellhauses sind nicht die seltsamen Tätigkeiten, denen sie nachgehen, sondern das Gewöhnliche an ihnen: der Alltag einer Kleinfamilie. Abends legt Hera ihren Fuß auf den Tisch und betupft ihre Warzen. „Warzen“, hat ihr der Arzt erklärt, „sind sehr geheimnisvoll. Sie breiten sich aus, wenn man sie in Ruhe läßt.“ Genau diese Ruhe herrscht in Egoyans Film.

Die Finger, das Haus, die Familie, die Warzen: Egoyan entfremdet, nicht, indem er die Dinge anders beleuchtet, sondern indem er ihre Aura zum Vorschein bringt. Deshalb sehen die Finger in der ersten Szene des Films aus, als leuchteten sie von selbst. Egoyan sprengt den Sinnzusammenhang auf, atomisiert die Bilder. Deshalb sind seine Gestalten so einsam. Man sieht nicht die Hand, nur die Finger. Man sieht nicht die Pornos, hört nur die Geräusche. Und wenn zwei sprechen, reihen sie Formeln aneinander. Nicht, daß Egoyan das Gespräch darauf reduzierte. Er macht lediglich aufmerksam auf das Formelhafte jeglichen Wortwechsels.

Unter den jüngsten Filmen, die sich mit der Künstlichkeit von Identität beschäftigen und der Unmöglichkeit, das sogenannte wirkliche Leben auf die Leinwand zu bannen — Prospero's Books, Barton Fink, Toto, der Held — ist Der Schätzer der traurigste: Er bezweifelt, ob es das wirkliche Leben, ein Jenseits der Bilder, überhaupt gibt, und kann sich doch nicht damit abfinden. Wo Toto, der Held fröhlich konstatiert, daß jede Biographie reine Erfindung ist, müht sich Der Schätzer um Rekonstruktion. Was Jaco von Dormael mit meisterhafter Leichtigkeit aus den Angeln hebt, betrachtet Der Schätzer mit Melancholie.

Leider erzählt Egoyan nicht nur die Geschichte der Familie Render, sondern, in einer Parallelhandlung, auch noch von Mimi und Bubba, einem exaltierten neureichen Paar, das sein Vermögen in die Inszenierung von Perversionen investiert, abstruse Dialoge führt, obszöne Parties feiert und mit voyeuristischer Lust in das Musterhaus eindringt. Abnorme Gestalten, in deren Auftritten Egoyans Blick hinter die Kulissen der Normalität zum billigen Effekt verkommt. Am Ende macht er uns doch etwas vor. Christiane Peitz

Atom Egoyan: Der Schätzer. Mit Elias Koteas, Arsinee Khanijian, Maury Chykin. Kanada 1991, Cinemascope, 102 Min.