»Wir wissen nicht, wie wir überleben«

■ Schulpartnerschaft zwischen Sonis (Nicaragua) und Fichtenberg-Oberschule/ Erstmals lateinamerikanische Schüler in Berlin

Steglitz. »Um in Nicaragua zu überleben«, zeigte sich eine dunkelhäutige Schülerin beeindruckt vom hiesigen Lebensstandard, »muß man sehr viel mehr arbeiten.« Das Mädchen gehört zu sechs SchülerInnen aus der Region Somoto im Norden Nicaraguas, die seit vorgestern für vier Wochen in Berlin weilen. Auf einer gestrigen Presse-Schüler-Lehrer-Konferenz in der Steglitzer Fichtenberg-Oberschule tauschten die jungen Nicas erste Eindrücke aus. Das Treffen war eine Premiere: Obwohl es schon länger Partnerschaften zwischen Schulen in Berlin und andernorts gibt, haben zum ersten Mal SchülerInnen aus Lateinamerika Berliner Boden betreten.

Auch die Verbindung zwischen Steglitz und der Schule »Olman Flores Estrada« in Sonis bei Somoto existiert bereits seit 1989. Ein Besuch des Dörfchens Sonis, den die Kreuzberger »Stiftung Umverteilen« wenig später ermöglichte, hat bei Fichtenberg-SchülerInnen tiefe Eindrücke hinterlassen: »Wir sehen Deutschland und den ganzen Konsum jetzt mit anderen Augen«, sagte eine Schülerin. Vizerektor Hans Paul bestätigte die hohe Folgewirkung dieser Reise: Die Dritte Welt spiele eine große Rolle im Unterricht. Aus Spenden wurde die Errichtung eines Schulgebäudes in Sonis sowie der Bau einer Wasserleitung unterstützt, die »Arbeitsgruppe Nicaragua« bereitete den jetzigen Gegenbesuch vor. Die Nicas wohnen in Berliner Familien, nehmen am Unterricht und an diversen Exkursionen teil: unter anderem nach Wolfenbüttel zu BMW, »um eine moderne kapitalistische Produktionsstätte kennenzulernen«, und ins Sozialamt, »um die andere Seite desselben Systems beleuchten zu können«.

Dennoch werden Berliner Armut und nicaraguanische Armut meilenweit voneinander entfernt bleiben. In Sonis, so berichtete die Lehrerin Maria Susanna Aquilera, die zusammen mit ihrem Kollegen, dem Liedermacher und mehrfach ausgezeichneten Nationalpreisträger Ernesto Valladarez Velasquez gekommen war, »wissen wir wirklich nicht, wie wir überleben sollen«. Es gebe wenig Arbeit, wenig Wasser und »viele Ernährungsprobleme«. Kinder und Lehrer »kommen ohne Essen im Magen in den Unterricht«. Unter der FSLN- Regierung hätten sie wenigstens noch ein Glas Milch pro Tag bekommen. Jetzt aber müssen für die Oberstufe Schulgeld und Bücher, Hefte und Kreide bezahlt werden, obwohl oft »das Einkommen, wenn überhaupt, nur zum Essen reicht«.

Selbstredend war es den Nicas deshalb nicht möglich, den teuren Flug nach Berlin zu bezahlen, was dann der Evangelische Entwicklungsdienst übernahm. Das Steglitzer Bezirksamt sei bisher nicht in der Lage, die Reisekosten bei solchen Austauschprogrammen zu finanzieren, bedauerte Thomas Härtel, Bezirksstadtrat für Volksbildung. Doch in Zukunft, so meinte er, müßte da über BVV-Sondermittel etwas zu machen sein. Die Haushalte seien halt durch die deutsche Vereinigung belastet, erklärten die Lehrer den Nicas. Was die Gegenfrage auslöste, »wie ihr euch denn nach der Vereinigung fühlt«. Ein junger Steglitzer, der gerade von einem Schulbesuch in Smolensk heimgekehrt war und lachend seine russische Pelzmütze gegen ein FSLN-Käppi austauschte, antwortete ihm: »Die Vereinigung hat den westlichen Kleinbürger moralisch überfordert, bei ein paar Groschen, die er mehr zahlen soll, fängt er an zu schreien. Aber es gibt hier auch ein paar Patrioten, die die Revolution von 1989 in die Tradition von 1918 zu setzen versuchen.« Ute Scheub