Gegen die Windmühlenflügel der Schweigespirale

Ein Symposium zum 75. Geburtstag der demoskopischen Kassandra und „Rotfunk“-Warnerin Elisabeth Noelle-Neumann  ■ Von Martin Halter

Elisabeth Noelle-Neumann, die „Pythia vom Bodensee“, hat mit ihrem „Institut für Demoskopie“ die Deutschen seit 1947 2.500 mal befragt und dabei so gründlich vermessen, daß „Allensbach“ weithin als Synonym für Meinungsumfragen gilt. Die umtriebige Frau, in der internationalen Fachwelt wie im Kanzleramt gleichermaßen geachtet, ist nicht nur eine begnadete Unternehmerin und wertkonservative Kassandra. Gelernte Zeitungswissenschaftlerin und Journalistin, hat sie 1965 auch das erste Institut für Publizistik an der Mainzer Gutenberg-Universität gegründet und bis 1983 mit einer — in den APO-Wirren von 1968 gestählten — Zähigkeit und mit dominantem Charme geführt. Zu ihrem 75.Geburtstag veranstaltete das Mainzer Institut kürzlich ein Symposium zu ihrem Leib- und Magenthema „Öffentliche Meinung“.

Eine neue Erkenntnis und auch die Worte dafür finden zu können, so hat Noelle-Neumann im 'Faz‘-Fragebogen einmal bekannt, wäre für sie „das vollkommene irdische Glück“. Es ist ihr zuteil geworden, aber die Kollegen von der scientific community sind nicht so recht glücklich geworden mit der berühmten „Schweigespirale“. 1980, nach zwei für die CDU/CSU verlorenen Bundestagswahlen, hatte ihre publizistische Beraterin den Grund dafür gefunden: Der Mensch neigt dazu, sei es aus Opportunismus oder aus tiefsitzender „Isolationsfurcht“, lieber mit dem Rudel zu heulen als seine Meinung mutig gegen eine vermeintliche Mehrheit zu vertreten. Weil die linken Medien, namentlich das Fernsehen [das kann ja wohl nicht angehen, d.s-in], ein sozialliberal dominiertes „Meinungsklima“ suggerierten, seien die CDU-Anhänger vor dem lärmenden Zeitgeist verstummt. Daß sie dennoch nicht von der „Schweigespirale“ zur Schnecke und endlich mundtot gemacht wurden, sondern, trotz „Rotfunk“, sich schon 1983 wieder zur Mehrheit emporschraubten, hat Noelle-Neumanns Glauben an ihre Hypothese so wenig erschüttern können wie die heftige Kritik der Sozialwissenschaft an den methodischen Prämissen und ungenügenden empirischen Belegen.

Die Beobachtung, daß der souveräne Untertan — vom „mündigen Bürger“ mag Noelle-Neumann nur ungern sprechen — sich eher auf die Seite der stärkeren Bataillone schlägt, ist ja so abwegig nicht. Aber diese „spiral of silence“ ist keine revolutionäre Erkenntnis, sondern bloß die von Aristoteles bis James Madison formulierte Einsicht in die Volten der wankelmütigen „öffentlichen Meinung“. In einer Zeit, da der klassische „Konformitätsdruck“ sich auflöst und nur noch eine Minderheit sich zur „schweigenden Mehrheit“ rechnen mag, ist die Schweigespirale weniger plausibel denn je. Noelle-Neumann hat die Entstehung einer individualistischen Oppositionskultur nach 1968 ebenso verschlafen wie die Differenzierung der herrschenden Meinung in heterogene „postmoderne“ Lebensstile. Die „Isolationsfurcht“ oder gar jener „quasi-statistische Sinn“, mit dem man das Meinungsklima in einer Art intuitiver Privat-Demoskopie abschätzen soll, sind doch eher windige anthropologische Axiome.

Neolle-Neumann-Getreue versuchen die grobe Schweigespirale wenigstens durch neue Faktoren und „Persönlichkeitsvariablen“ zu verfeinern. Daß Menschen, die von ihrer Meinung in hohem Maße überzeugt sind, auch dann nicht ihre „Redebereitschaft“ verlieren, wenn sie sich in der Minderheit wähnen, sondern eher andere zu Anhängern bekehren wollen, begreift Helmut Scherer als „Missionarseffekt“. Stanley Rothman wiederholte den auch hierzulande geläufigen Vorwurf, die „ideologisch verbohrten“ Medien verzerrten etwa die Pro- Atomkraft-Tendenz der wissenschaftlichen Experten durch Selektion und Verstärkung von Dissidenten-Meinungen ins erwünschte ökologische Gegenteil.

Der Historiker Michael Stürmer ließ es sich nicht nehmen, Bismarck als „Zauberlehrling“ der öffentlichen Meinung im Kaiserreich vorzuführen. Und der Soziologe Niklas Luhmann gab einen kurzgefaßten Abriß seiner Systemtheorie. So wie etwa Kunst nur noch für Künstler gemacht werde, sei auch das politische System, frei von jeder Rückkoppelung an Wirklichkeit, längst selbstreflexiv geworden. Die öffentliche Meinung ist nicht der Souverän, sondern das Medium, worin sich die „Beobachter zweiter Ordnung“ tummeln. Für diese politischen Profis ist es ein „Tanz vor dem Spiegel“, in dem sie nur sich selber sehen und, über die Schulter hinweg, den Raum, in dem sie grimassieren und sich inszenieren. Das hat nichts mit Ideologiekritik oder auch nur Skepsis zu tun: Politik ist nur, wie Recht, Wirtschaft oder Wissenschaft auch, ein autonomes, in sich kreisendes Funktionssystem, das seine eigene Negation mitproduziert und jede Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Realität und Schein obsolet macht. Die Demoskopie also schafft „Tatsachen“, damit die Politik — vor allem für Beobachter erster Ordnung — so tun kann als ob.

Wolfgang Bergsdorf, Chef der Inlandsabteilung von Kohls Presseamt, tut freilich nicht nur so. Für ihn ist die demoskopisch ermittelte, „unverfälschte öffentliche Meinung“ ein „Steuerungsinstrument“, um der „veröffentlichten Meinung“ — jenem „widrigen Mediendruck“ also, der leider immer wieder „objektive Sach- und Problemzusammenhänge“ subjektiv verfälsche — besser trotzen zu können. Kohl hat in der Tat gute Erfahrungen damit gemacht, den Zeitgeist auszusitzen und, mit Allensbach im Rücken, „auch gegen die öffentliche Meinung das Richtige durchzusetzen“. Das muß er, weil er, anders als der kurzsichtige plebiszitäre Plebs, bis zu vier Jahre vorausplant; und das kann er auch um so leichter, als nach allen demoskopischen Regeln nach einer Entscheidung — Nato-Doppelbeschluß, Volkszählung oder Steuerreform — „der Problemdruck sinkt“ und der Popanz „Öffentliche Meinung“ jäh in sich zusammenfällt: Die „Festigkeit“, mit der der Kanzler alle über den Löffel balbiert, beeindruckt zuletzt auch die Kritiker.

Bei der abschließenden „Disputation“ wurde dann auch die Jubilarin mit Kritikern konfrontiert. Der Wiener Kommunikationsforscher Wolfgang Langenbucher und Thomas Kielinger, Chefredakteur des 'Rheinischen Merkur‘, kritisierten unisono ihre Überschätzung der Medienmacht. Die Journalisten seien schließlich keine Ungeheuer, die den Bürger nach Belieben manipulieren könnten, sondern allenfalls „Aasgeier“ (Kielinger), jedenfalls teilnehmende Beobachter eines umfassenderen „Meinungsklimas“. Doch darüber läßt die Ex-Journalistin nicht mit sich reden. Wenn schon die „öffentliche Meinung“ — jenes unergründliche „Rätsel“, dem sie ihr Leben schicksalhaft verschrieb — ein wohltätiger, aber auch gefährlicher Riese ist, der wie eine „soziale Haut“ die auseinanderstrebende Gesellschaft zusammenhält, dann sind die Massenmedien erst recht furchtbare Drachen. Verbilden und untergraben sie nicht das gesunde Volksempfinden, das sie dem deutschen Michel direkt am Puls abnehmen will, durch ihre ideologische „Negativität“? So kämpft sie mutig und manchmal freilich auch blind wie Kassandra, ihre Lieblingsheldin, gegen die Windmühlenflügel der Schweigespirale. Im Grunde ihres Herzens ist sie mehr Künstlerin als Wissenschaftlerin und eher Dona Quichotte als Heilige Johanna. Daß sie, wie jetzt wieder in Mainz, ihre aus nackten Statistiken gewonnene Legitimation zu emphatischen Werturteilen über „unsere wunderbare Staatsform“ nutzt, belegt nur, was man ohnehin schon ahnte: Mit Meinungsumfragen läßt sich so ziemlich jede Meinung untermauern.