„Wahlen waren Teil des Lügenstaates“

Freispruch im Wahlfälschungsprozeß gefordert/ „Gefährliche Nähe gesunden Volksempfindens“ befürchtet  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Eines zumindest ist beim Dresdener Wahlfälschungsprozeß unbestritten: es war eine faire Verhandlung. Verteidiger Otto Schily bescheinigte dem Gericht eine „wohltuende Sachlichkeit“ und würdigte das Verfahren gegen Ex- Oberbürgermeister Berghofer und Ex-Stadtparteichef Moke als einen „Gewinn für die Rechtsstaatlichkeit“. Diametral entgegengesetzt argumentierte gestern erwartungsgemäß die Staatsanwaltschaft.

Zwar räumte die Staatsanwaltschaft ein, daß die Wahlen in der DDR eine „rituelle Aktion ohne politische und personelle Konsequenzen“ waren, doch in der Begründung ihres Antrages ging sie davon aus, daß in der Verfassung der DDR „der Begriff der Wahl richtig formuliert worden sei“ und immerhin der Anspruch bestanden habe, ein Rechtsstaat zu sein. Die Wahlen hätten durchaus Möglichkeiten geboten, politischen Willen gegen die proklamierte „einmütige Zustimmung“ zu äußern und ein „Signal“ zu setzen.

Berghofer und Moke haben nach Auffassung der Ankläger durch die ihnen nachgewiesene Wahlmanipulation „ein hohes Maß an Zivilcourage“ von oppositionellen BürgerInnen verraten. Es sei jedoch hoch anzurechnen, daß die Angeklagten die Manipulationen gestanden haben, im Unterschied zu den als Zeugen vernommenen höheren Chargen der ehemaligen Partei- und Staatsführung. In ihrem Plädoyer forderte die Staatsanwaltschaft für beide Angeklagten Freiheitsstrafen von jeweils einem Jahr, die zur Bewährung ausgesetzt werden können. Zudem sollen Berghofer 20.000 DM und Moke 6.000 DM Geldbuße zahlen. Den Strafantrag gründete die Staatsanwaltschaft auf Paragraph 107a StGB der Bundesrepublik.

Genau dort setzte Berghofers Verteidiger Schily bei der juristischen Begründung seines Antrages auf Freispruch an. Bis zur Inkraftsetzung des Einigungsvertrages habe es „keine Strafvorschrift der alten Bundesrepublik gegeben, nach der die Handlung Berghofers strafbar gewesen wäre“. Vorangegangene Straftaten würden aber unter das in der Verfassung sanktionierte Rückwirkungsverbot fallen.

Schily führte aus, daß die Gesetze der alten Bundesrepublik erklärtermaßen nur die Wahlen der alten Bundesrepublik geschützt hatten. Mit dem Einigungsvertrag, und Schily zitierte unter anderem Bundesjustizminister Kinkel, sei „bewußt von der Möglichkeit abgesehen worden“, DDR-Recht weiterwirken zu lassen. „Hüten wir uns davor“, warnte Schily, „das formale Recht zu relativieren.“ Die Vergangenheit lasse sich nicht durch eine Verminderung des Rechtsstaates aufarbeiten.

Otto Schily hatte sich nicht drei Verhandlungswochen lang die harsche Kritik, besonders seiner sächsischen Parteifreunde, angehört, um sich in seinem Plädoyer mit einem juristischen Exkurs zu begnügen. Seinen Kritikern diktierte der Anwalt, daß er Wahlmanipulationen weder politisch noch moralisch billige. Jedoch dürfe sich das in diesem Prozeß zu fällende Urteil nicht an Befindlichkeiten anpassen. Es liefe sonst Gefahr, in die „gefährliche Nähe des gesunden Volksempfindens“ zu geraten. Würde die Wahlmanipulation nach DDR-Kriterien oder damaligem bundesdeutschem Recht verurteilt, hätte das „makabre Konsequenzen“. Dann könnte ebenso die „Zusammenrottung“ von Oppositionellen im Herbst verfolgt werden. Die Folge wäre „politische Beliebigkeit“ bei der Verfolgung von Straftaten. Schily verteidigte seinen Mandanten auch gegen die „Kübel von Schmutz“, die öffentlich über Berghofer geleert wurden. Dem damaligen Oberbürgermeister sei es zu danken, daß in Dresden am 9. Oktober 1989 die verordnete Abgrenzung der Einheitspartei gegen die Opposition erstmals durchbrochen wurde. Bei den Versuchen der Staatsanwaltschaft, der DDR noch ein Quentchen Rechtsstaatlichkeit abzugewinnen, habe ihn das „blanke Entsetzen“ gepackt. Die DDR sei ein „Staat der Lüge“ gewesen, und die Wahlfälschung hätte sich in die Fälschung von Statistiken, von Geschichte und Beweismitteln als einer „Grundregel des realsozialistischen Staates“ eingereiht. Wer die Tat beurteile, dürfe die „fundamentale Deformierung der DDR“ nicht vergessen.