Ich kam mir vor wie ein Geschichtslehrer

■ Johann Kresnik probt zur Zeit an einem Stück über Frida Kahlo. Lore Kleinert sprach mit dem Leiter des Bremer Tanztheaters.

taz: Einige Ihrer wichtigsten Choreographien beruhten auf Biographien: Sylvia Plath, Ulrike Meinhof, Pier Paolo Pasolini, Fritz Zorn und jetzt die mexikanische Malerin Frida Kahlo. Was macht die besondere Faszination dieser Menschen für Sie aus?

Johann Kresnik: Diese Biographien haben viel mit der Gesellschaft zu tun, in der man lebt. In gewisser Weise bin ich da ein Angsthase: Ulrike Meinhof habe ich mehr als zehn Jahre mit mir rumgeschleppt. Aber dann kommt der Moment, und ich sage, ich muß es jetzt machen. Es kann passieren, daß ein Thema durch die Medien zu sehr zerredet ist. Die Malerin Frida Kahlo ist in der ganzen Welt sehr bekannt geworden. Für mich fiel die Entscheidung im letzten Sommer.

Wie haben Sie sich dieser Frau angenähert?

Über ihre spektakulären Bilder, ihre Selbstporträts wie etwa Die gebrochene Säule. 32 Operationen ließ sie nach einem Unfall mit 15 Jahren über sich ergehen, und am Ende hat man ihr das rechte Bein abgenommen. Was ging dieser Frau durch Kopf und Seele, als sie für Jahre ans Krankenbett gefesselt war? Sie war mit dem bedeutenden politischen Maler Diego Rivera verheiratet, der nun wirklich kein einfacher Mensch war, und fünf Jahre lang hat sie geduldet, daß er mit ihrer Schwester zusammen war. Wenn man Die gebrochene Säule nimmt, ist das natürlich ein surrealistisches Bild, aber wenn man weiß, wie oft ihre Wirbelsäule gebrochen war, ist es sehr konkret. Wie kann ich so etwas in ein stummes Theater, ohne Sprache, verwandeln? In meinem Kopf entstehen Bilder, lebendige Bilder, die für die Zuschauer übersetzt werden. Das bedeutet aber, daß ich keine Bilder von Frida Kahlo selbst verwende, indem ich sie auf die Bühne versetze — da würde ich mit Sicherheit den Kürzeren ziehen. Ich will ihre Geschichte erzählen, und nicht die ihrer Bilder.

Ein Freund Frida Kahlos, André Bréton, nannte Mexiko ein „Traumland an der Schnittstelle von Kunst und Politik“. Hat das Einfluß auf Ihre Produktion?

Die Farbenpracht ihrer Bilder, die mexikanische Tradition, wie den Totenkult, will ich in meine Form aufnehmen. Politik kam über Diego Rivera zu Frida Kahlo, als Stalinismus, und durch den Besuch Trotzkis, der im Blickfeld von Frida und Diego erschlagen wurde. Auch die Demonstrationen auf der Straße waren wichtig, doch vor ihrem Tod (1954) hat sie sich immer weiter von der Politik entfernt, und Rivera trat aus der Kommunistischen Partei aus. Das letzte Bild, das sie malte, war aber ein unvollendetes Bild von Stalin. Daß diese Verehrung so eine Rolle spielte, war für mich erschreckend, doch ich halte die politischen Aspekte für nicht so wichtig — mich interessieren die Gefühle dieser Frau.

Wie entsteht dann die Produktion, wie weit ist das ein gemeinsamer Prozeß mit Ihrer Gruppe?

Wenn ich den Gedaken habe, versuche ich, einen Bühnenbildner, Komponisten oder Schriftsteller dazu zu gewinnen, das Stück mit mir zu machen. Im Arbeitsprozeß entsteht ein grobes Exposé, dem die Gruppe natürlich zustimmen muß. Die vielen Bücher, wie jetzt über Frida Kahlo, liest die Gruppe von selbst. Es ist nicht mehr wie früher, vor vielen Jahrhunderten würde ich fast sagen, als ich anfing, Choreograph zu werden, daß Menschen vor einem stehen, die überhaupt keine Ahnung haben, was wir tun müssen. Die Selbständigkeit meiner Gruppe ist sehr groß, und zwanzig wissen mehr als einer, so daß die Mitarbeit mir sehr hilft. Vorschläge, die mich überzeugen, nehme ich natürlich, denn die Tänzer müssen das auf der Bühne umsetzen, nicht ich. Zusammen entwickeln wir die Bilder, die dem entsprechen, was ich im Kopf hatte, und jede Möglichkeit der Improvisation ist möglich. Entscheiden muß ich, weil eben am 8.Februar Premiere ist.

Glauben Sie, daß das ein Problem freier Gruppen ist, diesem Produktionsdruck nicht so ausgesetzt zu sein beziehungsweise die Institution Stadttheater nicht als Rückhalt zu haben wie Sie seit vielen Jahren?

Mit freien Gruppen habe ich dann Schwierigkeiten, wenn sie es sich zu leicht machen. Ich habe etwas gegen Laientum am Theater. Professionalität ist, wenn ich einem Tänzer sage, er müsse mir im Training eine schwierige klassische oder moderne Komposition tanzen, und er antwortet, okay, welche? Wenn in meinem Theater Sprache vorkommt, sage ich den Tänzern natürlich nicht, sie sollen wie Brandauer oder Quadflieg sprechen, sondern gefälligst in ihrer Sprache, so wie sie es können. Der Fehler der meisten liegt darin, Dinge zu verlangen, die nicht ausgebildet wurden. Amerikanische Musical- Profis, die können singen, sprechen, tanzen, Akrobatik — die haben aber auch die richtige Ausbildung. Für mich ist Kurt Hübner das große Vorbild, der hat seinen Leuten den richtigen Weg gezeigt. Nicht umsonst sind aus seiner Bremer Werkstatt so viele gute Leute gekommen. Das Gespür, eine Person zu finden, ihre Fähigkeiten richtig zu beurteilen und sie richtig einzusetzen, das ist sehr schwierig. Und sehr selten. Der Trainer Otto Rehagel kann seine Leute auch nicht irgendwo hinstellen, und wenn er dreimal verliert, wackelt sein Stuhl. Genauso müßte es am Theater auch sein.

Wieso ist es Ihnen gelungen, die Spielräume des etablierten Theaterbetriebs so zu nutzen, daß Professionalität und Experiment zusammenkommen konnten?

Man darf nicht vergessen, daß ich aus einer hochprofessionellen Ausbildung kam, vom Statisten zum Gruppentänzer und zum Solotänzer, und dann hatte ich die große Chance, alles zu erfahren, was in den sechziger Jahren wichtig war: Cranko, Balanchine und alle anderen wichtigen Leute. Meine Fragen wurden für diese Berühmten dann sehr unbequem — ich fragte, warum ich etwas machen soll, weil ich ein Mensch bin und kein Holzklotz, den man auf die Bühne stellt. Balanchine hat mal zu mir gesagt, er wolle uns die Musik erweitern, und ich solle meine eigenen Sachen machen. Das tat ich. Kurt Hübner fand mich in Köln, als er einen Rebellen suchte [Kresnik baute zwischen 1968 und 1979 das Bremer Ballett zum Choreographischen Theater um, d.Red.], und ich habe mit meinen Leuten in den späten sechziger Jahren einen neuen Weg gefunden. Es war sehr schmerzhaft für die Tänzer, zum Beispiel eine Double Tour springen zu können, das aber bei Kresnik nicht zu brauchen. Dennoch hat es sich herausgestellt: Wer keine Double Tour springen kann, ist auf der Bühne auch nicht gut. Ich verwerfe die Tradition nicht, und ich muß auch nicht Beethovens Neunte umschreiben. Genausowenig möchte ich das klassische Ballett, das klassische Training missen. Und das ist der Haken bei freien Grupen — sie beherrschen es nicht.

Ihr choreographisches Theater war von Anfang an immer auch politischer Protest und zugleich eine Suche nach verdrängten Traumata. Sind die Provokationen auf der Bühne inzwischen konsumierbar geworden?

Tanztheater ist inzwischen nicht mehr das fünfte Rad am Wagen, sondern hat ein weites Spektrum an Publikum gewonnen. Die Zeit hat sich natürlich geändert, aber wenn ich an Ulrike Meinhof denke, da haben alle gesagt, das könne und dürfe man nicht machen. Es hat sich gezeigt, daß man mit diesem bildhaften Theater sehr gut verstanden wird — das muß nicht immer Shakespeare oder Aida sein. Ich kam mir ein bißchen vor wie ein Geschichtslehrer, der erzählt, was im alten Deutschland passiert ist. Ebenso mit Familiendialog: viele wußten nicht, daß diese Art faschistischer Erziehung in Deutschland immer noch stattfindet. Das schmerzt, wenn man diese Kinder sieht, orientierungslos und auf der Flucht in Drogen. Wenn man hier durch Bremen geht und die Drogenszene sieht, dann tut das wirklich weh. Ich glaube, man muß diese Themen auf die Bühne bringen und auch dem Publikum wieder weh tun. Wenn ein Heiner Müller heute sagt, die Denkarbeit sei gestorben und nur die Kunst richtig übriggeblieben, dann stimmt mich das bedenklich. Wir haben in Deutschland genug Stoff, um dem Publikum wieder eins vor die erste Reihe zu kotzen. Das hat nichts mit Experimenten zu tun, sondern mit politischem Denken und Handeln.

Sie selbst stammen aus einer kommunistischen Familie. Sie haben als kleines Kind mit angesehen, wie ihr Vater erschossen wurde: Was bedeutet Politik heute für Sie?

Wir haben die Verpflichtung am Theater, unsere Geschichte zu erklären, eine moralische Instanz zu sein. Wir brauchen doch nur in die Dritte Welt zu schauen, was da vor sich geht und auch uns betrifft — da ist es mit dem Kapitalismus bestimmt nicht getan. Wenn wir nicht umdenken, scheitern wir genauso wie der Kommunismus. Bis etwa 1964 hatte ich ein stalinistisches Denken, bis dann die Greueltaten bekanntwurden. Eine Zeitlang war ich glücklich mit dem Maoismus, der war aber nicht, was ich mir vorgestellt habe. Davon habe ich mich leicht getrennt. Meine Utopie ist die totale Gleichberechtigung, wirtschaftlich, politisch und rechtlich, da kann man die Hoffnung nicht aufgeben. Sozialistisches Denken darf aber nicht so aussehen, daß individuelle Denker und Künstler und ihre Experimente nicht vorkommen. Dann gäbe es keine Entwicklung, und so ein Denken habe ich nicht in mir. Meine Kinder sollen mir später nicht sagen, ich hätte nur nachgemacht, was andere vorgekaut haben. Alles muß sich immer wieder auf den Weg machen.

Wie verträgt sich Ihr Optimismus mit dem Schicksal der Protagonisten ihrer biographischen Choreographien, deren Verweigerung alter Rollen in tödlichen Katastrophen endet?

Meine Einstellung zur Gesellschaft ist davon bestimmt, daß Menschen an ihr kaputtgehen. Das waren alles Persönlichkeiten, die kein „normales“ Leben führen konnten, weil ihre Ideen sie so erfüllten. Ich finde es sehr erstaunlich, daß man im Bereich des Schauspiels nicht Stücke macht über Frida Kahlo, Pasolini oder Sylvia Plath, daß Schriftsteller das nicht aufgreifen. Mich reizt es, gerade extreme Persönlichkeiten den Zuschauern nahezubringen, ihre Geschichten bildhaft werden zu lassen. Sylvia Plath konnte sich durch Heirat und Kinder nicht retten, und Frida Kahlo auch nicht. In diesen Bildern sieht man viel von sich selbst. Alle Figuren haben auch etwas von mir. Ich bin zwar keiner, der leidet, aber sie sind mir sehr nahe. Ich möchte nichts machen, das so ähnlich wie die Blume von Hawaii ist. Unbewußt wurde die Beschäftigung mit Frida Kahlo zur Einführung in lateinamerikanische Geschichte, und ich werde im Sommer in Brasilien ein Stück über Brasilien machen. Eine Gruppe, einen Bühnenbildner und einen Schriftsteller gibt es schon, und ich bin sehr gespannt auf die Arbeit dort.

Man fragt mich oft, warum ich so arbeitswütig bin — ich glaube, es hat etwas mit meiner Jugend in den Bergen zu tun. Bis immerhin zu meinem neunten Jahr bin ich hoch in den Bergen in Österreich aufgewachsen, habe meine Kindheit nur mit Tieren, Wald und Wolken verbracht und bin täglich dreieinhalb Stunden zur Schule gegangen. Es gab das schockierende Erlebnis der Erschießung meines Vaters. Meine Kraft, glaube ich, kommt aus einer sehr starken Verbundenheit mit der Natur.