Lautes Nachdenken über „Großalbanien“

Auf dem Balkan wächst die Gefahr eines neuen, blutigen Krieges/ Ursachen des großalbanischen Nationalismus  ■ VON ROLAND HOFWILER

Bis vor kurzem pries die öffentliche Meinung in Europa die Gelassenheit und Mäßigung, mit der die albanische Bevölkerung im Kosovo auf die Verweigerung elementarer Menschenrechte durch die serbischen Nationalisten reagierte. Jetzt aber, wo eine rigorose Politik der „Serbisierung“ vorangetrieben wird, droht der Geduldsfaden zu reißen.

Ende Januar fand in Tirana ein Treffen mit hohem Symbolwert statt. Die albanische Regierung hatte Landsleute aus dem zusammengebrochenen Jugoslawien eingeladen. Das Treffen war von Seiten der „Diaspora“ hochkarätig beschickt, nahmen doch aus dem Kosovo Vertreter der informellen Regierung der autonomen Republik Kosovo ebenso teil wie Führer der mazedonischen Albaner, die dort die stärkste Minderheit darstellen. Zum feierlichen Abschluß des Treffens erklärte der Gastgeber, Albaniens Präsident Staatspräsident Ramiz Alia, er werde im Namen seines Landes die Europäische Gemeinschaft auffordern, die Unabhängigkeit der „Republik Kosovo“ anzuerkennen, damit diese nicht unter die „Herrschaft eines künftigen Großserbien“ falle. Die Konferenz war in den albanischen Medien das zentrale Ereignis.

Die Hauptstichworte des Gemeinsamen Kommuniqués: Die Albaner des Kosovo und Mazedoniens wollen, „nachdem der Staat Jugoslawien aufgehört hat, zu existieren“, zusammen mit der Regierung in Tirana die „ungelöste albanische Frage auf dem Balkan“ auf friedliche Weise lösen. Ramiz Alia wörtlich: „Denn das ist der heilige Wunsch des albanischen Volkes.“ Wie „heilig“ diese Frage im Armenhaus Europas mittlerweile ist, widerspiegeln seit Wochen die unabhängigen Zeitungen ebenso wie die zahlreichen Gedankenspiele albanischer Politiker. Es sind vor allem zwei neu entstandene Parteien, die die Vereinigung aller Albaner auf ihre Fahnen geschrieben haben. Zum einen die „Bewegung Kosova“, deren Vorsitzender Murat Gjonbala an die Liga vo Prizren (heute Kosovo) anknüpfen will, die 1878 innerhalb des osmanischen Reiches eine Autonomie für alle Albaner des Balkan anstrebte, ein Versuch, der scheiterte. Auf dem Berliner Kongreß, auf dem die Grenzen Südeuropas neu gezogen wurden, waren die Albaner gleich gar nicht vertreten, 1912 fiel im ersten Balkankrieg das Kosovo an Serbien. Ein Wunde im Selbstgefühl der Albaner, die bis heute nicht geheilt ist. „Jetzt müssen wir diese Spaltung überwinden“, meint Gjonbola und findet zunehmend Gehör.

Auch Idajet Beqiri, eine der schillerndsten Figuren der neuen politischen Szene des Landes und Vorsitzender der „Partei für die Nationale Union“, erklärt den Zusammenschluß des Kosovo und Teile Westmazedoniens an das Mutterland zum Hauptziel der albanischen Politik. Beqiris Partei hatte sich bereits im März vergangenen Jahres gebildet, doch verboten die damals noch allein regierenden Kommunisten, jetzt Sozialisten, ihr die Teilnahme an den Wahlen, da ihr Programm gegen die Verfassung verstoße. Auch die Medien schwiegen sie tot. Ein Jahr später, im Taumel der nationalen Euphorie der Balkanvölker, verzeichnete die „Nationale Union“ nun einen Mitgliederzuwachs wie keine andere Partei Albaniens. Selbst das Zenralorgan der Sozialisten 'Zeri i Popullit‘, hält sie mittlerweile für eine der „aussichtsreichsten Parteien“ bei Wahl für die neuen Parlamentswahlen, die die Sozialisten unter dem Druck ihres bisherigen Koalitionspartners, der Demokratischen Partei, auf März ansetzen mußten. Beqiris politische Aussagen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Die Vereinigung Albaniens ist das Hauptziel der Partei, wobei die albanischen Gebiete in Jugoslawien und Griechenland mit eingeschlossen werden sollten. Von einer Fläche von 28.000 Quadratkilometern soll Albanien auf 75.000 Quadratkilometer ausgedehnt werden.“ Also ein „Großalbanien“ als Gegenstück zu dem erträumten Großreich fanatischer serbischer Nationalisten? Beqiri antwortet unmißverständlich im Gespräch: „Nein, nicht ein Großalbanien, sondern ein richtiges Albanien, mit allen Gebieten, wo noch heute die Bevölkerungsmehrheit aus Albanern besteht.“ Worte, die Anklang finden bei einer Bevölkerung, die jahrzehntelang durch ein stalinistisches System von jeder modernen Entwicklung, die die Bedeutung des Nationalstaats relativieren würde, abgeschottet worden ist und nun wie kein anderes Volk Europas mit Hunger und Elend zu ringen hat.

Aber noch eine weitere Erfahrung radikalisiert das Nationalbewußtsein der Albaner: Nachdem Italien im vergangenen Sommer tausende „boat people“ mit unsanften Methoden zurück in ihre verhaßte Heimat schickte und Griechenland unbemerkt von der Weltöffentlichkeit seit Wochen Albaner abschiebt, die in den letzten beiden Jahren als sogenannte Angehörige der griechischen Minderheit legal einreisen konnten, sich aber der hellenischen Kultur nicht angepaßt und im großen Maße straffällig geworden sein sollen, setzt man in Tirana die letzte Hoffnung auf die über zwei Millionen Landsleute im zusammengebrochenen Jugoslawien. Gerade weil sie über fortgesetzte Repression von seiten Belgrads klagen und doch im Verhältnis zu ihren Landsleuten im Mutterland wirtschaftlich gesehen verhältnismäßig wohlhabend sind, könnte bei einer offenen Grenze das Kapital der Kosovo-Albaner und ihrer Angehörigen, die sich als Gastarbeiter in Westeuropa verdingen, eine unerläßliche Starthilfe für den „take- off“ der darniederliegenden albanischen Wirtschaft darstellen. Unzählige Überlegungen in diese Richtung stellt die derzeitige „Regierung der nationalen Errettung“ aus Sozialisten, Demokraten und Reublikanern seit Monaten an. Größtes Hindernis bisher: Belgrad öffnet seine Grenzen nicht in Richtung Skipetaren-Republik: Wer jenseits der jugoslawisch-albanischen Grenze reisen möchte, hat Hindernisse zu überwinden wie einst die Deutschen vor dem Fall der Mauer. Erst vor einer Woche erschossen serbische Grenzer eine Gruppe illegaler albanischer Grenzgänger, so zumindest 'Radio Tirana‘.

Wen wundert deshalb, daß beiderseits der Grenze der Wunsch nach Vereinigung immer größer wird. Ibrahim Rugova, Vorsitzender der größten Albanerpartei des Kosovo, des „Demokratischen Bundes“, und sein mazedonischer Kollege Nevzat Halili unterzeichneten mit ihren Parteifreunden der „Demokratischen“ und der „Republikanischen Partei Albaniens“ kürzlich eine Grundsatzerklärung, in der es heißt: „Dem Problem von Kosova und Westmazedonien wollen wir große Aufmerksamkeit widmen und die Vereinigung der Nation anstreben, was jedoch vom Selbstbestimmungsrecht der Albaner in Jugoslawien abhängig sein soll.“ Nach Meinung dieser gemäßigteren Politiker möchte man als erstes — ähnlich wie dies die rumänische Bevölkerungsmehrheit in der ehemals sowjetischen Republik Moldawien bereits vollzog — einen „zweiten albanischen Staat“ auf dem Territorium Ex-Jugoslawiens ausrufen und „im Zuge der europäischen Integration langfristig einen Nationalstaat aufbauen“. Darin sind sich die Volksvertreter im Parlament von Tirana einig.

Doch die Basis will schnellere Schritte. Vor diesem Hintergrund ist auch das Referendum der Albaner Westmazedoniens zu sehen, die wenige Tage vor dem Stichtag der europäischen Anerkennung jugoslawischer Republiken am 15.Januar für eine „territoriale Autonomie“ stimmten. Obwohl Nevzat Halili als der unbestrittene Albanerführer Mazedoniens angesehen wird, konnte er sein Volk nicht von dem Gedanken begeistern, in einem zukünftigen unabhängigen mazedonischen Staat zu leben. So zeichnet sich auf dem Balkan eine neue Konfrontation ab: auf der einen Seite die Albaner im Mutterland, als Mehrheitsbevölkerung im Kosovo und Westmazedonien und als kleine Minderheit in Griechenland und Montenegro, und auf der „Gegenseite“ die Serben, Montenegriner und Mazedonier, die alle den Albanern keine territoriale Autonomie gewähren wollen und erst recht keine Grenzveränderungen. Das durch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit eingerichtete „Frühwarnsystem“ sollte sich rechtzeitig mit der Gefahr eines neuen, dritten Balkankrieges vertraut machen.