DOKUMENTATION
: Die Strategie der Bundeswehr

■ Vorlage des Bundesverteidigungsministeriums an den Verteidigungsausschuß des Bundestages — Auszüge

Die Entwicklung militärpolitischer und militärstrategischer Vorgaben für die Bundeswehrplanung ist eine wichtige Voraussetzung, um im Planungsprozeß aus den zukünftig erforderlichen Fähigkeiten deutscher Streitkräfte konkrete qualitative und quantitative Folgerungen für die Weiterentwicklung der Bundeswehr zu ziehen. (...) Determinanten für diese Weiterentwicklung ergeben sich, wenn die übergeordnete politische Aufgabe der Streitkräfte vor dem Hintergrund der sich verändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in konkrete Aufträge und Fähigkeiten umgesetzt wird. [...]

Deutsche Sicherheitsinteressen

Die deutschen Sicherheitsinteressen und Bündnisverpflichtungen stellen den wesentlichen Bezugspunkt einer militärpolitischen Beurteilung dar. Unter Zugrundelegung eines weiten Sicherheitsbegriffs können die Sicherheitsinteressen für den Zweck dieser militärpolitischen Lagebeurteilung wie folgt definiert werden:

—kollektive, bündnisgebundene Sicherheits- und Verteidigungspolitik im atlantischen Rahmen;

—Erhalt der transatlantischen Bindung bei gleichzeitigem Ausbau der europäischen Integration;

—Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Konflikten jeglicher Art, die die Unversehrtheit und Stabilität Deutschlands beeinträchtigen könnten;

—Förderung des Demokratisierungsprozesses und des wirtschaftlichen Aufschwungs in den Ländern Mittelost-, Südost- und Osteuropas;

—Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität;

—Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen;

—Erhaltung des nuklearen Schutzes und Einflußnahme auf die Entscheidungen der Nuklearmächte; dies schließt auch die Bereitschaft zur Risikoteilung ein;

—Verhinderung der Proliferation insbesondere von Massenvernichtungswaffen und ballistischer Flugkörpertechnologie sowie weiterer Rüstungshochtechnologie;

—Fortsetzung einer stabilitätsorientierten Rüstungskontrolle in und für Europa.

Beurteilung der Risiken

Die militärpolitische Beurteilung muß solche Risiken in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, die den Frieden und die Chancen einer friedlichen Fortentwicklung gefährden können. Die Analyse konzentriert sich dabei unter anderem auch auf militärische Potentiale. Die Beurteilung dieser Risiken erfolgt aber nicht mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer möglichen existentiellen Bedrohung, sondern stärker unter dem einer möglichen Stabilitätsgefährdung. Weiterhin sind über den europäischen Raum und seine Peripherie hinaus auch globale Risiken und ihre möglichen Auswirkungen auf die Sicherheit Deutschlands in seiner zentralen Lage in Europa einzubeziehen.(...)

Eine ausschließlich auf Deutschland oder Europa konzentrierte Betrachtungsweise wird der Sicherheit Deutschlands und den zukünftigen Herausforderungen nicht gerecht. Schon heute sind Gefährdungen der Sicherheit und Stabilität Europas auch in außereuropäischen Regionen wie in Nordafrika oder im Nahen und Mittleren Osten festzustellen.

Die Beurteilung des Risikospektrums muß daher zwar aus europäischer und Bündnissicht, aber stets mit weltweiter Perspektive erfolgen. Entsprechend muß die politische Handlungsfähigkeit Deutschlands im Rahmen der verschiedenen kollektiven Systeme stärker den weiteren Horizont zukünftiger Krisen- und Konfliktbewältigung berücksichtigen. Dies schließt die Streitkräfte als politisches Instrument zur Sicherheitsvorsorge ein. In diesen Zusammenhang gehört die baldige klarstellende Verfassungsergänzung im Hinblick auf deutsche militärische Beiträge zur kollektiven Sicherheitsvorsorge außerhalb der Nato. [...]

Auftrag und Fähigkeiten deutscher Streitkräfte

Wenn zwischen den dargestellten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und der übergeordneten, aus der Verfassung abzuleitenden politischen Aufgabe von Streitkräften ein Bezug hergestellt wird, läßt sich daraus der Auftrag der Bundeswehr ableiten.

Die grundlegende politische Aufgabe der Streitkräfte ist der Schutz der territorialen Integrität Deutschlands, der Sicherheit seiner Bürger und der freiheitlich-demokratischen Lebensordnung gegen äußere Gefahren sowie die wirksame Wahrnehmung von Bündnisverpflichtungen.

Außerdem nehmen die Streitkräfte eine Unterstützungsfunktion wahr bei der Abwehr von Gefahren für den Bestand oder die freiheitlich- demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Bundeslandes sowie bei Naturkatastrophen, besonders schweren Unglücksfällen und zur dringenden Nothilfe oder zur humanitären Hilfe im nationalen oder internationalen Rahmen.

Darauf aufbauend kann der Auftrag der Bundeswehr wie folgt definiert werden:

„Die Bundeswehr hat den Auftrag, im Zusammenwirken mit anderen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften Deutschlands

1.das deutsche Staatsgebiet und seine Bürger sowohl national als auch zusammen mit den Streitkräften der Verbündeten gegen Gewaltandrohung oder -anwendung von außen zu schützen;

2.gemäß Verfassungsauftrag hoheitliche Aufgaben als Teil der staatlichen Exekutive wahrzunehmen;

3.einen Beitrag im Rahmen der deutschen Bündnisverpflichtungen zu leisten;

4.einen Beitrag zur Politik- und Bündnisfähigkeit Deutschlands durch Bereitstellung angemessener militärischer Instrumente zu leisten;

5.einen Beitrag zur Gestaltung gesamteuropäischer Stabilität durch Wahrung sicherheitspolitischen Gleichgewichts, vertiefte Zusammenarbeit mit den Verbündeten und enge Kooperation mit allen europäischen Partnern zu leisten;

6.nach klarstellender Ergänzung des Grundgesetzes an kollektiven Einsätzen über die Nato hinaus im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen (Kapitel VII) teilzunehmen, soweit es deutsche Interessen und deutsche Mitverantwortung für die Wahrung von Frieden, Humanität und internationaler Sicherheit gebieten.“ [...]

Zusammenfassung und Ausblick

Die bisherigen Überlegungen im BMVg zielten auf die Erfüllung von zwei Forderungen:

—den Entwurf der Gestalt und Rolle der BW zur Jahrtausendwende und damit

—die Entwicklung einer Meßlatte für die jetzt anstehenden Planungsentscheidungen.

Bundeswehrplanung ist zwar langfristig angelegt, aber dabei auch ein dynamischer Prozeß, dessen Ergebnisse stets der Überprüfung und Anpassung unterliegen. Daher besteht notwendigerweise weiterhin Untersuchungsbedarf, insbesondere in den Feldern Mobilmachungs- und Alarmwesen, logistische Basis, Transport und Sanitätsdienst. Mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen können Aussagen zu den Fähigkeiten der Streitkräfte weiter operationalisiert und quantifiziert werden.

Bereits heute wird aber auch deutlich, daß die erforderliche neue Qualität im Verteidigungsauftrag und in der militärischen Sicherheitsvorsorge nur erfolgreich umgesetzt werden kann, wenn weitgehender politischer und gesellschaftlicher Konsens zum Einsatzspektrum der Streitkräfte herrscht und die materiellen und ideellen Voraussetzungen der militärischen Sicherheitsvorsorge in Politik und Gesellschaft stärker als notwendige Gemeinschaftsaufgabe herausgestellt werden.