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Rund 600.000 Ostdeutsche pendeln zum Arbeiten in den WestenLange Reise für Löhne unter West-Niveau

■ Immer mehr Ostdeutsche sehen zur Arbeitslosigkeit nur noch eine Alternative: jeden Tag Hunderte von Kilometern nach Westdeutschland...

Lange Reise für Löhne unter West-Niveau Immer mehr Ostdeutsche sehen zur Arbeitslosigkeit nur noch eine Alternative: jeden Tag Hunderte von Kilometern nach Westdeutschland zu fahren oder ganz in den Westen überzusiedeln. Doch in den Betrieben gibt es Spannungen zwischen Pendlern und Einheimischen. Vorurteile haben sich aufgestaut, und der soziale Neid der Wessis wächst.

Sie kommen aus Eisenach, aus Ohrdruf und, sagt der Busfahrer mit „eem P“, aus Breitlingen und Brotterode in Thüringen nach Hessen. Im Süden Thüringens, rund um Sonneberg, ist die bayerische Landesgrenze näher. 17.000 Menschen reisen hier täglich zur Arbeit ins Nachbarland. Die Arbeitslosen im sächsischen Annaberg im Erzgebirge haben es noch weiter. Sie pendeln bis ins Ruhrgebiet und bleiben dort die Woche über in Wohnheimen. Der Stundenlohn, den zum Beispiel ein Monteur bekommt, liegt erheblich unter „West-Niveau“. „Wir kommen uns“, sagt Dieter H., „inzwischen einfach betrogen vor.“ Das Arbeitsamt, das ihm seinen Job vermittelte, nahm sich wenig Zeit für die Information. So wußte er zum Beispiel nicht, daß er das Recht hatte, untertariflich bezahlte und mit einer Anreise von mehr als zwei Stunden verbundene Arbeitsamtangebote abzulehnen. Er hat sich inzwischen sachkundig gemacht und ausgerechnet, daß er für die ganze Maloche 200 Mark weniger bekommt, als sein Arbeitslosengeld betrug. Er wagt es nicht, sich bei seinem Sachbearbeiter zu beschweren: „Der war in der Partei und ich nicht.“ Seine Beobachtung verbindet er mit der Bitte, weder seinen Namen noch den Ort zu nennen: „Parteilos ist gleich arbeitslos oder höchstens ein so beschissener Job wie meiner.“

Anna B. ist „müde, hundemüde“, wenn sie mittags auf dem Parkplatz in Frankfurt-Fechenheim aus dem von der Firma gecharterten Reisebus klettert. Sie wohnt in Eisenach und arbeitet als Packerin beim Versandhaus Neckermann. Mittags um 11.15 Uhr fährt der Bus ab. Damit ist sie, wie rund 700 KollegInnen, pünktlich zur zweiten Schicht um 15 Uhr am Band. Um 23.15 Uhr geht es wieder nach Hause. „Meist kommen wir“, sagt der Busfahrer, „um zwei Uhr nachts wieder an.“ Die Anfahrtszeit sei kürzer geworden in den letzten Monaten, es gebe aber immer noch zu viele Baustellen auf der Strecke. Da bleibt keine Freizeit, „höchstens fünf bis sechs Stunden schlafen und dann wieder los“. Das Versandhaus hat mittlerweile genug davon, den Pendelverkehr als Hilfe für Thüringen öffentlich anzupreisen. Pressesprecher Kahmann hält sich bedeckt. Er hebt noch einmal hervor, daß die tagtägliche Ochsentour der neuen ArbeiterInnen dadurch ausgeglichen wird, daß sie nur vier Tage in der Woche arbeiten müssen, von Montag bis Donnerstag. Er erwähnt auch, daß viele den zusätzlichen freien Tag gar nicht wollen. Sie arbeiten auch noch freitags — gegen Extra-Bezahlung.

Dieser Fleiß der „Ossis“ aber ist es, der die Wut der „Wessis“ auslöst. Anfangs habe der Betriebsrat „mitgemacht“, das Ankarren von tausend Pendlerinnen befürwortet. Wegen des gestiegenen Ost-Umsatzes sei die zweite Schicht eingerichtet worden. Die pensionierte Gewerkschaftssekretärin Gisela Mühlberger, die die „Neckermänner“ jahrelang betreute, sieht „ein hochexplosives Gemisch“ anwachsen: „Die haben tausend Menschen einfach in den Betrieb reingestopft, ohne sich um die soziale Verträglichkeit zu kümmern.“ Auf mehreren Betriebsversammlungen schlugen seither die Wogen hoch: „Das ist gestohlene Zeit!“ Vier-Tage-Woche und zusätzliche Bezahlung für den fünften Tag als Überstunden, das, fanden viele, sei eine Ungerechtigkeit. Die Frauen, die mit Werksbussen aus dem hessischen Vogelsberg kommen, maulten, schließlich müßten auch sie „morgens um fünf aufstehen“.

Die Vorurteile haben sich aufgestaut. Herta M., seit vielen Jahren als Nebenerwerbsbäuerin aus der Wetterau bei Neckermann, flucht schon am Firmeneingang. Lahmarschig seien „die Neuen“, unkollegial, und „sie klauen wie die Raben“: „Die haben eben nur Faulenzen und hintenrum Organisieren gelernt!“ Die „Ossis“ wiederum sind über die Aggressionen erschreckt und antworten auf Fragen am liebsten gar nicht mehr. Sie eilen schon eine gute Stunde vor Schichtbeginn an ihren Arbeitsplatz und nehmen sich höchstens zehn Minuten Zeit, schnell im firmeneigenen Verkaufsladen nach Preiswertem zu stöbern, zum Beispiel Schweißdrähten, importiert aus Mansfeld in Sachsen-Anhalt.

Im ehemaligen Zonenrandgebiet registriert Karl-Heinz Wilbers, Pressesprecher des Arbeitsamtes, „boomt vor allem der Handel“. Rund 4.000 Pendler und zahlreiche Übersiedler fanden hier Arbeit. Die früher strukturschwache Region sei von einer „ganz eigenen Dynamik“ erfaßt worden. Es seien 25 bis 30 Prozent mehr offene Stellen gemeldet als bisher. „Aufgefangen“ werden vor allem die Arbeitslosen aus den thüringischen Kalibetrieben um Merkers.

Die Infrastruktur verändert sich zusehends. Die Grenze aber bleibt: Neue Betriebe, vor allem Banken und Versicherungen, errichten ihre Filialen auf der ehemals westlichen Seite der „Demarkationslinie“ und arbeiten „in den Osten“ hinein. „Drüben“ stimme, so ein Bankangestellter, „die Infrastruktur eben noch nicht“. Deshalb sitzen die Handelsvertreter abends auch in der Gaststube des Hotels „Jägerhof“ im hessischen Hünfeld in der Rhön und rechnen die „drüben“ gemachte Tageskasse aus.

In den letzten Jahrhunderten war die Rhön Hinterland für die thüringischen Industriestädte Suhl und Eisenach. Hünfeld, einst beschaulich und abgelegen, ist nun zum Ort für den Durchgangsverkehr geworden. Die Reihenhäuser in stiller Grenznähe stehen jetzt an der einst verödeten Handelsstraße nach Leipzig im Berufsverkehr. Der Unmut wächst vor allem unter den Jugendlichen. Betriebe, die früher gezwungen waren, den in der Grenzregion eklatanten Facharbeitermangel durch Ausbildung von Lehrlingen zu beheben, greifen jetzt auf die „Ossis“ zurück.

Das Kasseler Arbeitsamt zählt derzeit rund viertausend Pendler, vor allem im Bau- und im Hotel- und Gaststättengewerbe. Spannungen bauen sich vor allem, wie bei Neckermann, da auf, wo die expandierenden Unternehmen, die bisher vorwiegend Arbeitsemigranten beschäftigten, den gestiegenen Umsatz mit Hilfskräften aus den neuen Ländern bewältigen, weil der Arbeitsmarkt, zum Beispiel in Frankfurt, so eine Gewerkschafterin, „ohnehin leergefegt ist“. Hier stoßen Welten aufeinander. Italienische Arbeiter, seit dreißig Jahren in der Bundesrepublik, empfinden sich längst als Deutsche, engagieren sich in der Gewerkschaftsarbeit und verstehen kaum, daß sie auf einmal „als Ausländer“ wahrgenommen werden.

Gisela Mühlberger: „Der soziale Neid wächst.“ Sie meint, „daß die Arbeitsplätze dahin müssen, wo die Leute wohnen“. Es gehe nicht gut, wenn ein Versandhaus „vom Westen aus jetzt bis nach Rostock liefert“. Heide Platen

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