Als Kind hatte ich Angst vor Spritzen

■ Ein Tag mit einem obdachlosen Junkie-Pärchen am Sielwall-Eck / Zwischen Aufsteher, Kohlemachen und Fixen

Um halb zehn sind wir an der „Jola“ verabredet. Um zehn ist dort eh „Zapfenstreich“: Dann müssen die „Klienten“ das Übernachtungsschiff verlassen. Detlef und Karin (Namen von der Redaktion geändert) haben sich bereit erklärt, mich einen Tag lang als ihren „Schatten“ zu dulden. Weil sie wußten, daß sie am Anfang viel erzählen würden, haben sie sich nach dem Wachwerden einen „Aufsteher“ gedrückt: gutes Heroin, in ausreichender Menge — „damit wir nicht gleich solchen Streß haben.“

Zum Kaffeetrinken und Frühstücken blieb dann jedoch keine Zeit. „Zum Frühstück gibt's eh dasselbe wie abends: Brot und Mortadella oder Marmelade.“ Nach über drei Monaten haben sie darauf keine Lust mehr: „Das Brot ist so hart, das ist garantiert in Hohehorst übriggeblieben.“ („Hohehorst“ ist eine Therapieeinrichtung der „Drogenhilfe e.V.“, die auch Träger des Übernachtungsschiffs „Jola“ ist.)

hier den Kasten

„Einmal nur

Ruhe haben“

Mit einer Plastiktüte voller Schmutzwäsche, die Hände in den Manteltaschen vergraben, läuft Karin voraus zur Straßenbahn: Mit Linie 2 oder 3 geht's in die Stadt. Detlef hat seinen täglichen Arzttermin. Um kurz nach zehn muß er bei seinem Hausarzt im Viertel erscheinen, um sein Methadon zu trinken. Karin wird noch nicht substituiert: „Unsere Beziehung geht deshalb schon langsam auseinander. Wir streiten uns oft, weil Detlef nicht zugucken kann, wenn ich mir was spritze.“ Sie sehe auch nicht ein, Detlef von dem Stoff abzugeben, meint Karin. Denn er brauche es auch gar nicht. „Ich schaffe ja auch das Geld ran.“ Während Detlef zum Arzt geht, wartet sie am Sielwalleck. Die Hände in den Taschen, den Blick auf die Straße. Manchmal spricht sie jemand an. Nicht: wie geht's? Sondern: hast Du Roopis? (= Abkürzung für „Rohypnol“, ein Schlafmittel, das viele Junkies vermischt mit Heroin spritzen).

Als Detlef ankommt, ist es halb elf. Auf der anderen Straßenseite stehen drei andere Bewohner von der „Jola“: „Die haben es heute auch nicht eilig. Die haben Küche gemacht.“ Für zehn Mark pro Stunde übernehmen einige der Junkies im Wechsel Küchendienst: Abräumen, Tassen spülen. Andere sind für's Klo zustän

dig: Saubermachen, Abpumpen. „Manchmal kommt das Zeug durch die Dusche hoch. Dann stehst du plötzlich in der Scheiße.“ Karin hat deshalb Shampoo und Haarspray in der abgegriffenen Plastiktüte. Sie will beim AK-Drogen duschen und Wäsche waschen.

Dorthin gehen die beiden dann auch um kurz vor elf. Erst Spritzen tauschen. Dann nehmen wir Platz am Konferenztisch des AK. Ein Ausnahmezustand: Wegen der „Pressearbeit“ dürfen die beiden fast anderthalb Stunden bei warmem Kaffee und Müsli im Laden sitzen bleiben. Detlef gibt sich als Gastgeber. Normalerweise bliebe der Aufenthalt auf die Versorgung beschränkt: Spritzen tauschen, Wäsche abgeben, Post abholen, Duschen, auch mal ein Beratungsgespräch. Den offenen Treff, die Aufwärmstube hat der Verein für akzeptierende Drogenarbeit schon vor Monaten abgeschafft. Der Massenandrang war nicht zu bewältigen.

Zurück zum Eck. Es ist kurz vor halb eins. In einem Hauseingang stehen drei Junkies. „Die warten auf ihr Geld.“ Detlef erklärt: Wer schnell einen „Vorschuß“ auf seinen Scheck vom Sozialamt braucht, der kann entsprechenden Kurieren für 20 Mark den Scheck in die Hand drücken, kriegt 50 Mark gleich und den Rest des Schecks tags drauf, wenn der Kurier ihn eingelöst hat.

Zurück am Eck beginnt die schwierigste Zeit: Drobs und AK- Drogen haben Mittagspause. Allmählich wird es voll an der Sielwallkreuzung. Zwei Frauen streiten. Ununterbrochen bahnen Junkies sich den Weg durch die Herumstehenden. Pressen halblaut ihre Fragen nach Spedas, Roopis (= Tabletten) und einem Päck (= Päckchen Heroin) durch die Zähne. Einer hilft einer alten Frau aus der Straßenbahn. Für eine Frau mit Kinderwagen treten einige zur Bordsteinkante zurück. Ein Lieferwagen rammt im absichtlich dichten Vorbeifahren einem Junkie den Seitenspiegel in den Rücken. Mühsam hält er sich auf den Füßen.

In den Straßenbahnen: Versteinerte Gesichter

Die Minuten scheinen endlos. Kälte zieht durch die Klamotten. Es ist erst eine dreiviertel Stunde vergangen, seitdem wir das AK- Büro verlassen haben. Wenn man sich auf die Treppenstufen der Kneipe stellt, sind die Füße nicht ganz so kalt. Es zieht auch längst nicht so stark. Am angenehmsten steht es sich dicht an den Pfeiler gekauert. Die Junkies überlassen mir freundlich den Platz. Keiner stört sich an mir als Fremdkörper in der Szene. Aus den Straßenbahnen gucken regelmäßig sämtliche Fahrgäste herüber: Kein Lächeln ist zu sehen. Nur versteinerte, abweisende Gesichter.

Ein Polizist mit Schäferhund streift wiederholt durch die Gruppe aus vielleicht zehn, zwölf Leuten: „Macht euch nicht so breit.“ Beim vierten Mal klingt es bedrohlich: „Wenn Ihr nicht verschwindet, lasse ich alle einsam

hier Spritze

im Arm

Junkie-Alltag: Drei, vier Drucks täglichFoto: Jörg Oberheide

meln.“ Vorm „Cinema“ bauen sich unterdessen zwei Zivilbeamte auf, zücken ihr Funkgerät, fordern die „Minna“ an. Eine Junkie-Frau hat's gehört, erzählt es weiter. Binnen weniger Minuten sind alle verschwunden: in sämtliche Himmelsrichtungen, zum Teil in die Straßenbahn.

Wir laufen zum Spielplatz. Zwei andere wollen dort einen Joint rauchen, haben Detlef eingeladen. Sie werden grantig, weil er plötzlich zwei Frauen im Schlepptau hat. Es ist halb zwei.

„Soll'n sie ihren Shit doch alleine rauchen.“ Wir gehen zum AK wenige Schritte weiter. Ein Sozialarbeiter läßt uns rein. Zum zweiten Mal Ausnahmezustand an diesem Tag. Die Wäsche ist mittlerweile fertig. Karin richtet sich her: Duscht, legt rosa Lippenstift auf, steckt die Haare zusammen. Frische Klamotten an. Welchen Mantel? Den Warmen oder den Weiten? Eine wichtige Frage: denn gleich heißt es „Kohle machen.“ Jetzt will sie wissen, wie spät es ist: „Es wird langsam Zeit.“

Kurz nach zwei. Ich habe Hunger. Essen? Karin: „Ich brauch nix. Der Körper kommt ohne Essen aus.“ Manchmal gehen sie zur Drobs in die Bauernstraße Mittagessen. Aber nur alle paar Tage. Und heute gab's doch schon Müsli. Sie guckt nervös auf die Uhr. Die Sucht meldet sich. Die Wirkung der Morgenspritze hält noch an. Aber spätestens um halb vier, weiß Karin, braucht sie den nächsten Druck. „Ich muß los. Sonst wird es zu spät. Dann kann ich nicht mehr laufen.“

Hastig läuft sie zum nächsten Supermarkt. „Hier ist es schwierig. Die meisten kennen mich. Normalerweise müßte ich jetzt

nach Vegesack oder sonstwo hin.“ Karin's Tour sind Flaschen. Sie klaut Whisky oder Baileys. Schnaps und Rum bringen längst nicht soviel. 40 Mark muß sie für den Druck am Nachmittag zusammenbekommen. Gute Flaschen bringen zehn, Schnaps nur fünf Mark pro Flasche. „Abnehmer“ sind Kneipen und Imbißbuden. Detlef trottet in angemessenem Abstand hinterher. Er wartet draußen, nimmt Karin die Beute ab. Sie hetzt durch die Supermärkte. Irgendwie ist nur Schnaps zu kriegen an diesem Tag. Anderthalb Stunden lang eilt sie von Laden zu Laden, von Kunde zu Kunde. 35 Mark. „Mist, fünf fehlen noch.“ Nochmal los. Diesmal dauert es lange. Ob sie erwischt wurde? Fast zehn Minuten. Aber es hat geklappt.

Kein Wort haben die beiden gesprochen, als Karin „arbeitet.“ Wortlos die Flaschenübergabe. Lediglich ein Wortwechsel darüber, ob X. den Pernod wohl nimmt. Nein, tut er nicht. Also zur Straßenbahn, schnell in die Neustadt. Dann hat sie die vierzig Mark beisammen. Aber rund um den Sielwall sind zur Zeit keine Dealer unterwegs. Nur Junkies, die sich ihren eigenen Stoff dadurch finanzieren, daß sie ihre Sozialhilfe am Anfang des Monats „großhändlerisch“ in Heroin investieren, das sie dann aufteilen, strecken und verkaufen, reinvestieren usw. Was Karin dann auftreiben kann, ist solch ein gestrecktes Heroin.

Jetzt kann sie es kaum noch aushalten. In der Drobs konnte sie heißes Wasser besorgen — dann muß sie es nicht aus irgendeinem Klo oder einer Pfütze nehmen. Sie stürmt vor Detlef her in einen Hinterhof. Die Füße stolpern

schon übereinander. Pillen in den Löffel, mit Wasser auflösen, „Asco“ (Ascorbin) dazu. Manche nehmen auch Zitronen, um eine bessere Auflösung zu erreichen. Feuerzeug drunterhalten, Spritze montieren, aufziehen. Dann das gleiche noch einmal, diesmal mit dem Heroin: „Schütt nicht wieder alles daneben“, herrscht Karin Detlef an. Während er das Gift aufkocht, zieht sie ihm den Schuhsenkel aus dem Stiefel, bindet sich den Arm schon ab. Sie reißt Detlef die Spritze aus der Hand, sticht sich die Nadel in den Handrücken. Es ist zu kalt, die Vene ist nur schwer zu finden. „Das ich mit dem Tadderich überhaupt treffe“, wundert sie sich, wühlt in den Adern herum. Als Kind habe sie Angst vor Spritzen gehabt. Das erste halbe Jahr habe Detlef sie immer spritzen müssen. Dann hat sie es lieber selbst erledigt: „Du lernst deinen Körper kennen, kannst es selbst am besten.“

Blut läuft über die Hand, sie leckt es ab: „Das desinfiziert“, hat ihr jemand erzählt. Der HIV- Test ist bei beiden negativ verlaufen. Sie achten seitdem peinlich genau auf saubere Spritzen. Herumliegende Utensilien anderer Junkies sammeln sie ein. Wie sie sich jetzt fühlt? „Echt gut.“ Endlich sei es nicht mehr kalt.

Eine knappe halbe Stunde hat die Prozedur gedauert. Zurück zum Eck. Kurze Verschnaufpause: Gucken was die andern machen. Es ist kurz vor fünf. Karin wird wieder unruhig: Sie muß die Abendtour noch machen. „In Wäsche.“ Diesmal klaut sie Bodys und Leggins. Die kann sie zur Zeit direkt in Stoff umsetzen. Und dann hat das Schiff auch schon wieder auf. Birgitt Rambalski