Die Vergangenheit darf nicht ruhen

■ An der Humboldt-Universität diskutierten die Geschichts- und Bibliothekswissenschaftler über die Rolle, die ihre Institute in der DDR gespielt haben/ Erneuerungsprozeß kommt nur langsam voran

Mitte. Ein tiefer Graben trennt seit langem das Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt- Universität. Schon allein die Sitzordnung der Historiker machte am Samstag optisch die Fronten klar: während sich um den Faschismus- Forscher Kurt Pätzold diejenigen gruppierten, die zu DDR-Zeiten für Relegationen und Gängelung verantwortlich waren, saßen in der Nähe des neuen, aus Freiburg herbeigerufenen Institutsdirektors August Winkler die Opfer aus jenen Tagen. Zum zweiten Mal seit 1990 hatte man sich getroffen, um über die eigene Vergangenheit zu sprechen.

Eine Annäherung war dabei nicht auszumachen. Im Gegenteil: Die Ansichten, wie mit der eigenen Historie umgegangen werden soll, klafften genauso weit auseinander wie die räumliche Distanz, die zwischen den Gruppen im Senatsaal herrschte. So beklagte der bis vor kurzem amtierende Direktor Ingo Materna, wie schwierig es sei, offen zu sprechen, wenn »das praktisch mit dem bürgerlichen Tod beantwortet wird«. Der ehemals stellvertretende Minister für Hoch- und Fachschulwesen, Gerhard Engel, sah gar die »Lust auf die öffentliche Debatte« durch den Beschluß der drohenden Abwicklung verhindert. Daß er nicht mehr im Vorlesungsverzeichnis auftauche und ihm stattdessen eine ABM-Stelle angeboten worden sei, bezeichnete er als ein »De-facto- Berufsverbot«.

Ähnlich agrumentierte Pätzold, der 1968 und 1972 an Relegationen teilgenommen hatte. Die Vergangenheitsbewältigung sei längst zu einem »politischen Kampfinstrument« geworden, diene als »Medienspektakel« und »als Profilierungsinstrument für Karrieristen jeglicher Art«. Ob er damit, so wollte Stefan Wolle vom »Unabhängigen Historiker- Verband« wissen, die Relegierten der HUB meine. Pätzold verneinte dies ausdrücklich und entschuldigte sich später, sollte dieser Eindruck entstanden sein. Doch das Mißtrauen blieb. Als Pätzold seine Bemühungen aus dem Frühjahr 1989 hervorhob, mit westlichen Institutionen in einen verstärkten Austausch zu treten, platzte Armin Mitter vom »Unabhängigen Historiker-Verband« der Kragen: Die Westkontakte seien ausgenutzt worden, »um dann wieder nach unten zu treten«. Notwendig sei eine Aufarbeitung der deutsch- deutschen Geschichtswissenschaft.

Winkler und andere neu berufene West-Professoren wandten sich gegen jeden Versuch, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Er betonte, daß das »Wühlen in der Vergangenheit« zum Beruf der Historiker gehöre. Er kritisierte jene Kräfte, die die Reformrhetorik perfekt beherrschten, »ohne sich selbst zu ändern«. Winkler verwahrte sich dagegen, Personen wegen ihres marxistischen Ansatzes oder einer Mitgliedschaft in der SED oder PDS vom Lehrbetrieb auszuschließen. Wer jedoch in der Vergangenheit »reiner Geschichtspropagandist« gewesen sei, in der Stasi mitgearbeitet oder politisch motivierte Relegationen betrieben habe, könne nicht mehr dabei sein.

Verfehlungen hingenommen

Konkret wurde es nur einmal: als der 1972 relegierte Rainer Eckert seine Biographie aufblätterte. Dabei wurde deutlich, welche Vorsicht im Umgang mit vorschnellen Urteilen geboten ist. Denn sein damaliger Professor in Archivwissenschaften, Botho Brachmann, hatte zwar seinen Rausschmiß mitgetragen, wurde aber selbst vor dem Verfahren unter erheblichen Druck gesetzt und erhielt nachträglich sogar ein Disziplinarverfahren.

Zum gleichen Thema diskutierten am Donnerstag abend die Bibliothekswissenschaftler. Eine Gruppe im Jahr 1972 relegierter StudentInnen forderte den Humboldt-Professor Steffen Rückl zum Rücktritt auf. Rückl ist Dekan eines Fachbereichs und zugleich amtierender Direktor des Instituts für Bibliothekswissenschaft und wissenschaftliche Information. Die damals zehn Monate inhaftierte Mechthild Günther beschuldigt den heutigen Dekan, sie und ihre KommilitonInnen in den Jahren 71/72 »aktiv und anhaltend« politisch denunziert zu haben.

Vor etwa 70 TeilnehmerInnen machte Mechthild Günther Rückl für die Disziplinarverfahren gegen sechs Studierende des Institutes verantwortlich.

Ihre MitstudentInnen wären gezwungen worden, sich von den Verleumdeten zu distanzieren. Auch nach Günthers Relegierung hätte Steffen Rückl öffentlich gegen ihr »negatives politisches Verhalten« polemisiert und sie als »Klassenfeindin« denunziert.

Mechthild Günther hatte Rückl 1970 als Leiter der FDJ-Grundorganisation in der Bibliothekswissenschaft abgelöst. Sie war 1972 verhaftet und zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt worden — offiziell wegen Aufenthaltes in der bundesdeutschen Botschaft in Bukarest. Zehn Monate der Haft saß sie ab.

Er bedauere die Disziplinarmaßnahmen, antwortete Steffen Rückl auf die Vorhaltungen. Sie hätten, »wie ich heute weiß«, berufliche Nachteile für die Studenten gebracht. Er wäre jedoch an keinem der Disziplinarverfahren beteiligt gewesen. Er hätte, schilderte Rückl, damals »keinen Zugang dazu gefunden, daß es andere politische Auffassungen als die meinigen gab.« Er hätte nicht verstanden, wie man die DDR kritisch beurteilen könne. Die Vorwürfe gegen seine KommilitonInnen (»feindliche Hetze« und »versuchten Grenzübertritt«) hätte er »so hingenommen« und sich von Günther und den anderen distanziert, beschrieb Rückl sein Verhalten in den Jahren 1971/72.

Rückl war im September 1990 auf den Lehrstuhl für »Wissenschaftliche Information« berufen worden. Dagegen hatte Mechthild Günther zusammen mit ihren KommilitonInnen protestiert. Bei der Diskussion gestand Rückl »moralische und politische Verantwortung« ein. Die Personal- und Strukturkommission seines Institutes weigerte sich im April vergangenen Jahres, Steffen Rückl »persönliche Integrität« im Fall der Relegationen von 1972 bescheinigen. Rückl verneinte die Frage, ob er Informeller Mitarbeiter gewesen sei, und kündigte an, er werde von seinem Amt zurücktreten, wenn die Studenten das wollten.

Es gebe Schuld, die nicht konkret benennbar sei, sagte Bernhard Singelnstein — ein ebenfalls 1972 exmatrikulierter Student. Man müsse innehalten, bezog sich Singelnstein auf Rückls Erinnerungen an die Zeit, »wenn man sich nicht vorstellen kann, daß jemand eine andere Meinung hat.«

Roger Großmann, studentisches Mitglied der Personal- und Strukturkommission, sagte, er habe den Eindruck, daß sich ein relativ fester Stab von Leuten am Institut gegenseitig decke. Neben Rückl wurde auch den Dozenten Jürgen Freytag und Günther Fröschner eine Mitverantwortung an den Relegationen angelastet.

Freytag meinte indes, das »Institut stand damals unter Kuratel der Partei«. Er stellte dar, daß die Relegationen auch eine entspannende Wirkung gehabt hätten, weil die Studenten »nicht weiter ins Messer laufen konnten«. Severin Weiland

Christian Füller