Gertrud Seehaus

■ Ein „Brief an Rushdie“

Lieber

Salman Rushdie,

es ist ein wenig eigenartig, auf die relativ vertrauliche Anrede auf dem in meine Schreibmaschine eingespannten Blatt zu schauen. Der, den ich so anrede, den kenne ich schließlich nicht. Und doch kenne ich Sie natürlich — wie die ganze Welt Sie inzwischen kennt. Wenn in den letzten drei Jahren Äußerungen von Ihnen in die Welt der Straßenbahnfahrer, Kino- und Partygänger, Geburtstagsfeierer, Schwimmbadbesucher, Straßenflanierer, Kinderwagenschieber, Kirchen-, Synagogen- und Moscheebesucher, Festteilnehmer oder Versammlungsmitglieder drangen, in jene Welt also, der Sie seit fast drei Jahren nicht mehr angehören, habe ich stets aufmerksam hingesehen und -gehört. Etwas Außerordentliches begab sich dort: Es kamen Nachrichten aus einer ultramodernen Raumfähre, eine Isolationskapsel besonderer Art, bei deren Herstellung finsterste vorgestrige Denkweise und modernste Technik gut zusammengearbeitet hatten. Ein Mann war weltweit zu sehen und zu hören, der, wie man wußte, durch Bannspruch gleichzeitig zu einem der einsamsten Menschen der Welt gemacht worden war.

Bei jeder dieser Nachrichten, die von Ihnen zu uns drangen, habe ich mich gefragt: Ist er noch guten Mutes? Gibt er die Hoffnung nicht auf? Oder resigniert er gar? Und immer war ich froh, Sie als Handelnden, Eingreifenden, einen seine spärlichen Möglichkeiten kreativ Nutzenden zu erleben.

Niemand, der schreibt, bleibt durch das Wissen um Ihre Situation ungeschoren. Es ist, als stellten sich alte Fragen neu: Was bedeutet Meinungsfreiheit, die Freiheit des Redens und Schreibens, wenn sie gekoppelt ist an die Frage der reinen, nackten Existenz? Wie lebt ein Schriftsteller mit einem hochgradigen Verlust von Welt, wie beeinflußt, verändert das sein Schreiben?

Natürlich öffnet es Ihnen nicht die Türen zur Welt, wenn Schriftsteller an den unterschiedlichsten Orten zusammensitzen und diese Fragen erörtern. Aber es mag ein ganz kleiner Trost sein, zu wissen, daß Sie auf diese Art in unseren Gedanken sind. Und vielleicht dringt ein wenig Welt zu Ihnen, wenn wir jetzt unsere Gedanken zu Ihnen auf den Weg bringen.

Im letzten Jahrzehnt habe ich sechs Jahre in Jerusalem verbracht, diesem einzigartigen Treffpunkt der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, Islam. Obwohl ich meinen römisch-katholischen Glauben als Erwachsene aufgegeben habe und nicht mehr im Sinne einer vorgegebenen Religion glaube, zwingt ein Ort wie Jerusalem fast zwangsweise zur Beschäftigung mit Religionen und ihren Wirkungen. Angesichts der wunderbaren Gedankengebäude der drei dort versammelten Religionen und angesichts dessen, wozu diese Religionen mißbraucht werden, habe ich folgendes Gedicht geschrieben. Ich widme es Ihnen, lieber Kollege Rushdie.

Trau nicht den Wörtern

Die Unschuld aus Wörtern gesogen

wie Mark aus den Knochen

Stehn Hüllen herum

Gerüste aus Konsonanten

Quallen zerdehnter Vokale

kleben im Schlamm

Gott

ein Wort für Schwarzpulver

und die Anfertigung von Leichen

aus lebenden Körpern

Gott

schreien sie

schwingen Messer

legen Brände

laden und feuern Kanonen

Gott

ist ihr Wort

Um meinen Brief nicht mit den düsteren Worten des Gedichts abzuschließen, drücke ich die Hoffnung aus, daß es in nicht allzu ferner Zukunft Ihre Freiheit zu feiern gilt. Wenn ich in einigen Tagen mit Schriftstellerkollegen zusammensitze, werden wir unsere Gläser heben und auf die Freiheit von Gedanken und Worten trinken. Und auf Sie, lieber Salman Rushdie.

Mit Grüßen

von Schreibtisch zu Schreibtisch,

Ihre Gertrud Seehaus