piwik no script img

Nicht kompatibel

■ Hayrettin Akdemirs Untersuchung zur neuen türkischen Musik

Wie mag wohl das Gastspiel jener Truppe auf Sultan Selim III. gewirkt haben, die 1797 im Topkapi-Saray große Oper zum besten gab? Wahrscheinlich ebenso exotisch wie umgekehrt die kriegerische Janitscharen-Musik auf die europäischen Tonsetzer. Offensichtlich waren die Ereignisse faszinierend genug, um es zu weiteren Begegnungen kommen zu lassen.

Eine breitere Rezeption europäischer Musik in der Türkei begann allerdings erst in der republikanischen Zeit (ab 1923) mit der radikalen Orientierung an westlichen Gesellschaftsformen, die sich in der Gründung von Orchestern, Hochschulen und Opernhäusern niederschlug.

Hayrettin Akdemirs Buch Die neue türkische Musik nimmt in einem geschichtlichen Überblick Ausgang von der Verbreitung abendländischer Musik in der Türkei, um zu seinem eigentlichen Thema zu gelangen: die Darstellung türkischen Komponierens im 20. Jahrhundert. Es ist zugleich ein Bericht über die Schwierigkeiten, die bei der Adaption verschiedener musikalischer Sprachen auftreten. Zwar hat die traditionelle türkische Musik ein System von Tonarten (Makam), eine Notenschrift (Hamparsum) und feststehende rhythmische Modelle, aber sie verfügt über ein weitgehend anderes Instrumentarium und eine völlig andere, nicht-temperierte Stimmung. Vor allem aber ist sie monodisch, kennt also weder Kontrapunkt noch akkordische Harmonisierung — sie ist mit der europäischen Musik nicht ohne weiteres kompatibel. Dies führte dazu, daß die europäische Kunstmusik, zumindest an den Akademien, die türkische Musik zunächst verdrängte, bevor die Phase einer Assimilation begann.

Auch das läßt sich der Darstellung von Akdemir entnehmen: wie sehr ein Musikleben nach europäischem Zuschnitt auf Institutionen und damit auf politische Entscheidungen angewiesen ist. Denn in welchem Maße die Verflechtung von Ausbildungsstätten, Aufführungsorten, Feuilletons und Verlagen Grundlage für einen Musikbetrieb nach westlichem Muster ist, zeigt sich, wenn einzelne Organe nur unzureichend funktionieren. Wo die Notendrucke fehlen, bleiben die Aufführungen aus. Mit dem Blick in die Ferne erfährt man manches über die eigene Kultur.

Welche Wege türkische Komponisten beschritten haben, um trotz des engen europäischen Korsetts (man denke nur an die starre Metrik) musikalische Traditionen ihres Landes geltend zu machen, untersucht Hayrettin Akdemir an Volksliedbearbeitungen für gemischten Chor. Selbst Komponist, versteht er es, nicht nur im Überblick die verschiedenen Strömungen zu charakterisieren, sondern zeigt auch in Analysen am Detail das kompositorische Problem und dessen Lösung auf. Darüber hinaus erweist er sich als Schatzgräber. Über 40 zumeist vierstimmige Chorlieder sind in den Anhang des Buches aufgenommen, Stücke, die vergriffen, nie gedruckt oder nur sehr schwer zugänglich sind — ein Umstand, der das Buch auch für Chöre und Musiker interessant macht. Frank Hilberg

Hayrettin Akdemir: Die neue türkische Musik. Dargestellt an Volksliedbearbeitungen für mehrstimmigen Chor, Hitit-Verlag, Berlin 1991

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen