Der Herzog und das Wunder von Meiningen

In der Stadt an der Fränkischen Pforte in Thüringen dreht sich alles um das Theater/ Aufschwung Ost mit Kunst, Kultur, Verwaltung und Banken/ Die bürgerlichen Meininger halten ihrem „Theaterherzog“ Georg II. die Treue  ■ Aus Meiningen Heide Platen

Georg II. ist seit 1914 tot. Der steinerne auf dem Grab des „Theaterherzogs“ in Meiningen im Süden Thüringens schlummert sacht, der Geist des liberalen Monarchen ist quicklebendig. Kommunismus hin, Kapitalismus her, die rund 27.000 Einwohnern des Mekka der Theaterbegeisterten aus aller Welt halten Georg II. von Sachsen-Meiningen die Treue. In der Stadt zwischen Thüringer Wald und Rhön an der „Porta Franconia“ hat sich seit über 100 Jahren alles ums Theater gedreht. Der Herzog, der Regie führte, Bühnenbilder und Kostüme entwarf, reiste mit den „Meiningern“ durch die Städte Europas von Europas von London bis Odessa. Diese Tourneen brachten Weltruhm. Intendant Ulrich Burkhardt: „Meiningen, das ist die Wiege des realistischen Theaters!“ Und: „Ohne den Herzog keine modernen Inszenierungen von Shakespeare, Kleist, Hauptmann, Ibsen.“

„Sicher“, sagt Kulturdezernentin Christiane Weisheit, „gibt es auch hier Probleme, vor allem wegen der über zehn Prozent Arbeitslosen. Die Industriebetriebe sind geschlossen, die Hemdennäherei steht leer. Der größte Arbeitgeber ist jetzt wieder der öffentliche Dienst. Die Meininger müssen sich da nicht umstellen: Wir sind immer auch eine Beamtenstadt gewesen.“ Die Stadtverwaltung residiert, wie weiland die Hofbeamten des Fürsten, in den kleinen Stuben des Rundbaus des Schlosses, der Elisabethenburg. In den Reitstall ist ein Supermarkt eingezogen. Das ist, geben die Meininger zu, nicht ganz stilgerecht. Sie sind stolz auf ihr neoklassizistisches Stadtbild und gehen mit den westlichen Investoren streng um. Der Vorsitzende des Bauausschusses, Klaus Tenner, formulierte einen entsprechenden, parteiübergreifenden Beschluß des Magistrats drastisch. „Banken, Spielhöllen und Bordelle“ seien rund um den Marktplatz unerwünscht. Das, findet Weisheit, sei schon „etwas ungerecht gegenüber den Banken“, schließlich seien auch die potentielle Mäzene und mit Ausstellungsflächen für einheimische Künstler. Ohnehin scheinen die inzwischen 14 Banken, die Gastronomen und Versicherungen nichts lieber zu tun als historische Bauten zu restaurieren, ihre Wände für Gemälde freizumachen und Kulturveranstaltungen zu organisieren.

Das Lieblingsprojekt der Leiterin des Amtes für Kultur, Sport und Freizeit, Inge Kirchhoff, das Kulturhaus, entsteht in der „Villa Strupp“. Die Strupps seien die „Vorläufer“ der Großbanken gewesen. Das, meint Inge Kirchhoff, könne vielleicht den Drang ihrer Nachfolger in die Stadt an der Werra erklären.

Im Mittelpunkt aber steht immer das Theater, das „Wunder von Meiningen“. Überall in den neuen Bundesländern wird von Theater- und Kultursterben berichtet. Hier ist das Haus jeden Spielabend ausverkauft. Die Abonnentenzahlen haben sich mehr als verdoppelt. Der zweitägige Theaterball war „das“ gesellschaftliche Ereignis der Region. Intendant Ulrich Burkhardt, aus Kassel abgeworben, registriert das mit leicht ironischem Understatement. Sein Spielplan ist bunt gemischt: „Das ist für die Menschen in dieser Gegend richtig und wichtig.“ Belehrungen hätten sie schließlich mehr als genug erfahren. Chefdramaturgin Kristina Maaß probt Kafkas Prozeß. 1991 spielte das Ensemble das Berliner U- Bahn-Musical Linie 1, The Rocky Horror Show ebenso wie Im weißen Rössl. Kleist und, natürlich, Shakespeare, stehen auf dem Programm. Der Sommernachtstraum wird nach den Originalanweisungen und den phantastischen Bühnenbildern „des Herzogs“ inszeniert werden. Das große Ensemble mit Oper, Ballett, Schauspiel und Orchester soll erhalten bleiben. Ob er Leute entlassen habe? „Ja, zwei Tenöre. Die waren aber auch danach.“ Eine Verkleinerung des technischen Stabes um 50 Planstellen habe er vor allem durch Auslagerung und Vorruhestandsregelungen erreicht. Ein Drittel der BesucherInnen kommt aus dem „Westen“. Sie lockt der Ruf des Hauses ebenso wie die auf das einheimische Einkommen zugeschnittenen Eintrittspreise. Burkhardt schwört auf das „Kulturpaket Meiningen“ mit Schloß, Museen und Galerien zwischen Bergen und Wäldern. Seine Wünsche für die Zukunft sind so gemischt wie sein Programm: „Zwei Hotels, ein Billardcafé und ein Aldi zum Einkaufen für die Leute mit wenig Geld.“

In den Kellergewölben der Elisabethenburg, unter Museum und Stadtverwaltung, hütet und pflegt die Leiterin des Staatsarchivs, Hannelore Schneider, ihre Schätze. Ihr steht die Freude darüber, diese endlich öffentlich zugänglich machen zu können, ins Gesicht geschrieben: „Früher war das immer eine gewisse Heimlichtuerei. Das hat uns nicht gut getan.“ Jetzt kommen „alte Meininger“ von überall her und suchen ihre Familiengeschichte. Studenten und Wissenschaftler forschen in den herzoglichen Theater- und Verwaltungsschriften. Die Randnotizen von Georg II. allein wären genug Material für ein eigenes Forschungsprojekt. Auch die während des Faschismus angelegten Akten aus Justiz und Verwaltung sind wieder zugänglich. Das älteste Schriftstück stammt in Kopie aus dem Jahr 933, das erste Original ist im Mai 1008 datiert. Hannelore Schneider, der jede Urkunde „ein Heiligtum“ ist, zieht den Geruch nach Staub und Holz tief ein: „So riecht ein gesundes Archiv!“

Vielleicht lagert in ihren Kellern ein zweites „Wunder von Meiningen“. Bei einigen Metern Steuerakten, sagt sie, „sind die Einbände interessanter als der Inhalt.“ Die Bücher sind außen in mittelalterliche Handschriften eingebunden, auf denen deutsche und hebräische Schriften und Musiknoten zu erkennen sind. Zur Auswertung fehlen vorerst Zeit und Personal. Schneider registriert jeden begehrlichen Blick: „Ein guter Archivar darf nicht einmal Briefmarken sammeln!“

Warum in Meiningen alles ein bißchen besser klappt als anderswo in den neuen Bundesländern? Sowohl in der Stadtverwaltung als auch in der neueröffneten kleinen, städtischen Kunstgalerie ist viel die Rede von ganzheitlichen Konzepten, von einer in sich stimmigen, langfristigen Stadtentwicklung. Den Zuschlag für die Übernahme des bisher einzigen Hotels im Ort, des „Sächsischen Hofes“, erhielt ein Gastronomen- Ehepaar aus Bayern. Die Sawades schlagen sich ebenso hartnäckig wie idealistisch mit dem Verfall wie mit den Schäden herum, die ein letzter Versuch realsozialistischer Rekonstruierung dem Hause 1988 in den Obergeschossen angetan hat: zerstörte Stuckdecken, morsche Installationen und Plastikfußböden. Die Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutz ist, sagt Sven Sawade, „sehr gut“. Zum Jahresende soll eröffnet werden.

Sogar der allenthalben schwelende „Ossi-Wessi“-Konflikt wird hier nicht ganz so ernst genommen. In den kleinen Wirtshäusern in der Innenstadt, im „Goldenen Zwinger“, in der „Wolfsschlucht“ treffen sie sich und diskutieren das derzeit „heißeste Eisen“ der Stadt gemeinsam. Seit Wochen dauert die Streit um die Schließung der Jugendzentren an. Die Jugendlichen fordern ein rund um die Uhr offenes, selbstverwaltetes Haus. Das finden die „Wessis“ gut, die „Ossis“ sind skeptisch. In zwei Punkten sind sie aber alle Meininger Bürgerliche geworden. Die Werbekampagne des CDU- Landrates für das „Herzogtum Meiningen“ gefällt ihnen gar nicht. Die Monarchie sei „schließlich, trotz unseres Herzogs, abgeschafft“. Und sie sind sich einig in einer leisen Schadenfreude gegenüber der ehemaligen Bezirkshauptstadt. Das „rote Suhl“, gegen dessen verordneten Plattenbau sich die „Alteingesessenen“ immer wehrten, ist „eifersüchtig“: „Alle wollen nach Meinungen, kaum einer nach Suhl!“