Repression als einziges Programm

■ Einen Monat nach dem erzwungenen Sturz von Präsident Chadli Bendjedid steht Algerien vor der Lage, vor der das Militär das Land angeblich bewahren wollte: offenem Aufstand. Die Verhängung des...

Repression als einziges Programm Einen Monat nach dem erzwungenen Sturz von Präsident Chadli Bendjedid steht Algerien vor der Lage, vor der das Militär das Land angeblich bewahren wollte: offenem Aufstand. Die Verhängung des Ausnahmezustands ist die Bankrotterklärung der eigenen Strategie.

Samstag spät saßen in Algiers Regierungsviertel der „Hohe Sicherheitsrat“ (Khaled Nezzar, Mohammed Boudiaf und andere) mit dem „Hohen Staatskomitee“ (Boudiaf, Nezzar und andere) zu einer Krisensitzung zusammen. Es wurde ein fruchtbarer Austausch. Algerien wartete seit Wochen auf das Programm der Junta zum versprochenen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung. Sonntag, punkt acht Uhr abends brachen die Generäle dann ihr Schweigen: Sie verkündeten den Ausnahmezustand für zwölf Monate, erneuerbar. „Ordnung“, frotzelte ein abgetauchter Sprecher der Islamischen Heilsfront, „wir erwarten Ideen und hören immer Ordnung.“ Die Junta erklärte den Ausnahmezustand, nachdem am Wochenende die Auseinandersetzungen zwischen der Armee und jungen Islamisten in 25 algerischen Städten mindestens 80, möglicherweise aber über 120 Tote gefordert hatten. Das Kriegsrecht ist eine Antwort auf die Absicht der Islamisten, am kommenden Freitag in einem „pazifistischen Marsch“ auf Algier die „Wiederaufnahme des demokratischen Prozesses“ zu erzwingen.

Die „Sécurité militaire“ Nezzars und die Sondertruppen von Innenminister Leneral Larbi Belkheir führten derweil die Zerschlagung der Islamischen Heilsfront (FIS) weiter: Abdelkadr Moghni, der letzte charismatische FIS-Chef wurde festgenommen und mit ihm Achour Réhibi, Mitglied des FIS-Exekutivbüros. Der Sitz der Islamisten-Partei wurde geschlossen und alle Fußballspiele abgesagt — die Stadien waren neben den Moscheen die Freiräume, in denen sich Islamisten trafen.

Der Ausnahmezustand erlaubt der Junta die Verhängung von Ausgangssperren und Zensur, Verhaftungen und Internierungen, vor allem aber die Auflösung der FIS und der Gemeindeversammlungen, die seit den Kommunalwahlen vom Juni 1990 von den Islamisten geführt werden. Damit neutralisierten die Generäle die letzten institutionellen Reste der jungen algerischen Demokratie. Alle Macht liegt in den Händen der Junta und — auf dem Lande — der Präfekten.

General Khaled Nezzar ist da, wo er hin wollte: einen Schritt vor der Zerschlagung der Islamisten-Organisation. Die FIS schreibt in ihrem — vorläufig — letzten Kommuniqué: „Die Krise wird unausweichlich weitergehen, solang die Junta das Volk verachtet und ihre politischen Gegner verfolgt.“ Der durch Nezzars gezielte Repression entfachte Schwelbrand könnte diese Woche leicht zum Bürgerkrieg aufflammen: Abgetauchte Islamisten sagen, die Organisation des geplanten nationalen Marsches vom Freitag gehe „planmäßig voran“. Bringt die FIS tatsächlich einige zehntausend Menschen auf die Straße, stellt sich Nezzar das grausame Dilemma des Schießbefehls. Und niemand weiß, ob die Offiziere und Soldaten dann auch tatsächlich schießen würden. In diesen Tagen suchten junge Islamisten über die Barrikaden hinweg öfters den Dialog mit den Soldaten. Mit wenig Erfolg, meint ein junger „Fissiste“, „die sind zugemauert mit Privilegien und Haß.“ Ein Mitstreiter hält dagegen: „Du wirst sehen, die schießen nicht.“ Gestern haben sie den Leichnam eines Freundes im Spital ausgelöst, gegen 35.000 Dinar, fünf Monatsgehälter. Tod durch Schußwunden. Wie auch immer: „Egal was kommt, wir marschieren. Was haben wir schon zu verlieren? Ein Leben? Stimmt, aber was für ein Leben? Mit jedem Tag wird es schwieriger, zu leben.“

In Algier geht jetzt das Gerücht um, die Junta stehe unter starkem Druck von Offizieren und unabhängigen Persönlichkeiten, ihre harte Haltung aufzuweichen und das Gespräch mit den Islamisten zu suchen. Eine „Regierungsumbildung“, sagt Radio Trottoir, stünde an und eine überraschende Rochade Nezzars. Andere algerische Gesprächspartner glauben nicht an Nezzars Weitblick: „Der hat nur die Interessen seiner Herren in der Wirtschaft im Kopf“, sagt ein Medizinprofessor aus Algier. „Nezzar ist eine Gefahr. Am liebsten hätte er den permanenten Bürgerkrieg. Das wäre ihm eine Garantie, daß sich nichts ändert.“ In den letzten Tagen meldeten sich in Batna und Constantine, im aufrührerischen Osten des Landes, Islamistengruppen zu Wort, die eine Stadtguerilla vorbereiten. „Was ich so höre“, sagt der Mediziner, „ist interessant: Nezzar hat bei immer mehr Leuten im Establishment eine schlechte Presse. Einige Offiziere wären geneigt, Nezzar zu stürzen.“

Das kühne Gerücht ist so abwegig nicht: Die algerische Junta steht auch unter dem Druck der ausländischen Kreditgeber. Vor allem die amerikanischen Banken zaudern bei der Freigabe von Krediten, die sie dem abgesetzten Präsidenten Chadli Bendjedid zugesagt hatten. „Eine offensichtlich politische Option“, räumt ein Junta-Sprecher ein, und holt zu einem langen Exkurs über die „feindliche Haltung“ der „Sozialo- Mullahs“ aus — ein verbaler Doppelschlag gegen Frankreichs Sozialisten und die Teheraner Revolutionsführer, die dem Putsch in Algier wenig abgewinnen mochten. „Die Haltung des Westens und vor allem der Kreditinstitute“, sagt ein früherer hoher algerischer Diplomat, „hat ein ganz beträchtliches Gewicht. Ohne die Geldspritzen ist die Junta schon morgen tot und mit ihr drei Viertel der algerischen Nomenklatura.“

Tatsächlich waren die Positionen Frankreichs, der USA und Saudi- Arabiens schwankend. Die Saudis, Vollzieher der US-Politik im Maghreb, garantierten kurz nach den (später annullierten) Wahlen ein Abkommen zwischen der FIS und Chadli Bendjedid, sich die Macht zu teilen. Die westlichen Regierungen versuchen einerseits, den Einfluß der Islamisten zu begrenzen, andererseits sie in eine neue und stabile maghrebinische Ordnung einzubauen. Sie glauben nicht, daß sich der wirtschaftliche Aufschwung ohne Islamisten bewerkstelligen läßt. Gewerkschafter berichten, die Islamisten hätten gedroht, die Fabriken, die heute zu etwa 30 Prozent in Betrieb sind, gänzlich zu sabotieren. „Die Arbeitsmoral“, sagt ein Unternehmer aus Oran, „ist Algeriens größtes Problem. Niemand tut was, weil wir alle durch eine große Bitterkeit gelähmt sind. Die Einzigen, die das in den Griff bekommen, sind die Islamisten.“

Etliche algerische Intellektuelle sind bereit, darauf zu wetten, daß Nezzar noch in dieser Woche fallengelassen wird. Oder, „die klassisch algerische Option“, sagt der Mediziner, „sie lassen ihn, wo er ist und legen alle Macht in die Hände eines neuen Gremiums. Diese Woche ist Hektik angesagt.“ „Und“, meint er noch, „macht die Nomenklatura den Islamisten nicht sehr schnell eine Türe auf, dann gnade uns Gott.“ Oliver Fahrni/Leyla Mechentel