Jatinder Verma:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Es heißt, in der Hölle gebe es für jede Gruppe Wächter, die darauf achten sollen, daß niemand aus dem feurigen Schlund entflieht — für jede Gruppe, außer den Südasiaten. Denn die ziehen einander selbst ins Feuer zurück. Dieser Witz, der unter Asiaten kursiert, ist seit dem 14.Februar 1989 grimmige Wirklichkeit geworden. Ich rede natürlich von unserem Verhältnis zu einem von uns, zu Salman Rushdie.

Zunächst möchte ich klarstellen, daß ich kein Moslem bin, damit bestimmte Kreise es leichter haben, meine Ansichten abzutun. Ich bin eben jener „übersetzte Mensch“, den Salman in den letzten zehn Jahren so umfassend analysiert hat: ein Asiate, dies als erstes, in Britannien. Bevor wir Moslems und Hindus und Sikhs und Bengalen und Pandschabis und Gujaratis und Inder und Pakistanis und Bangladeshis und Khalistanis wurden, waren wir (und bleiben bei jeder Gelegenheit) „Asiaten“ — oder „Pakis“, um es ganz deutlich zu sagen.

Zwei Jahrzehnte des Kampfes um eine eigene Stimme — des Kampfes um das Recht, unsere Hoffnungen und Ängste zum Ausdruck zu bringen; des Versuchs, unsere Existenz im öffentlichen britischen Leben geltend zu machen, in einer Atmosphäre, in der wir über keinerlei Selbstbild verfügten — haben seit Februar 1989 damit geendet, daß wir in faktisches Schweigen zurückgefallen sind; paradoxerweise durch unser eigenes Tun. Ich sage „unser“, obwohl es in Wirklichkeit nur eine Handvoll jener war, die uns zu vertreten behaupten, die als erste die Sprache von Höllenfeuer und Verdammnis heranzogen, um Salman als Verräter an der Gemeinschaft zu malen.

Jenes selben Salman, der für uns alle ein Grund zum Stolz war, als er 1981 für Midnights Children den Booker-Preis gewann. Mit seinem Sieg wurden wir alle zu Preisträgern; nun konnten wir daran glauben, daß unsere Sprache in diesem, unserem Adoptivland endlich gehört werde. Hier war ein Mann, der bereit war, als er selbst zu sprechen — als Asiate, Einwanderer, Paki — und nicht als irgendeine „Kokosnuß“: braune Haut und innen weiß. Und der Preis schien den Mann nicht zu mindern, verführte ihn nicht zum Größenwahn (was einige befürchtet hatten). Sein scharfer Angriff gegen den Rassismus, der im gerade entstandenen Channel4 gesendet wurde, artikulierte erneut unsere eigenen unfertigen Gedanken zum Leben in Britannien. Er gab unserem Leben eine Geschichte — machte uns zu mehr als bloß einem „Einwandererproblem“. Vor allem zeigte Salmans Auftreten in den achtziger Jahren, daß man vor dem Establishment nicht buckeln mußte, wenn man in der britischen Öffentlichkeit gehört werden wollte.

Nun, zu unserer Schande, wollen ihn einige unter uns zum Buckeln vor einem ähnlichen Establishment bringen (es ist eine Ironie unesres Lebens in Britannien, daß wir jetzt unser eigenes Establishment haben, unsere eigenen Orthodoxien — wenn diese auch in Ermangelung echter Macht nur auf die Kleinstadt-Macht von Furcht und Einschüchterung zurückgreifen können).

Ich hielt es für nötig, heute an den Salman vor dem Valentinstag zu erinnern, weil bei den letzten beiden Weihnachten einiges durcheinandergeraten zu sein scheint. 1990, mit seiner groß publizierten „Bekehrung“, schien Salman viele seiner Anhänger, darunter auch mich, zu verwirren. Da uns dieser Wandel nicht völlig einsichtig war, mußten wir dem Mann schlicht „die Treue halten“, wenn er sich seinen eigenen Weg aus seinen Schwierigkeiten bahnte. Letztes Jahr, mit seiner Rede in New York, schien der alte kämpferische Salman zurückgekehrt. Aber beide Ereignisse, so scheint mir, entspringen einem einfachen Motiv: einen Weg aus dem Schweigen zu finden. Die Verbannung aus dem öffentlichen Bewußtsein gestattet es, zu vergessen, daß eine Geisel unter uns lebt.

Der Stolz von 1981 war ein kollektiver Stolz, und so ist die Schande von heute auch unser aller Schande. Nicht das weiße Establishment sperrte Salman ein — wir Asiaten haben das getan. Dieser Judasakt hängt nun nicht nur uns Asiaten an, sondern auch unseren zukünftigen Generationen, solange Salman in der Haft der drohenden Fatwa bleibt. Solange wir mit dieser Schande leben, werden wir all unsere Hoffnungen auf ein anderes Leben in Britannien in einer Zeit niederbrechender Mauern zum Verstummen gebracht haben.

Da wir auf der Schwelle zu einem folgenschweren Jahr für Britannien und Europa stehen, beschwöre ich Mr. Liaquat Hussain, Mr. Hassan el- Kasawy, Dr. Kalim Siddique, Dr. Shabir Akhtar etc., ihre anhaltende Opposition gegen Salman Rushdie aufzugeben. Schließt euch lieber mit ihm (und dem Rest der verstummten asiatischen Mehrheit — stumm inmitten des gebildeten Redeschwalls der wenigen) zusammen, um die Aufhebung der Fatwa zu verlangen; damit Salman wieder unter uns leben und arbeiten kann, ohne ständig über die Schulter sehen zu müssen. Er gehört zu uns — er ist ein Teil eines dauernden Erbteils unserer alten Zivilisationen: der Pluralität des Denkens und der Haltung. Seine fortgesetzte Haft ist kein Sieg für Ihre Sache: Sie dient lediglich dazu, uns alle — Moslems und Nicht-Moslems gleichermaßen — in das Schweigen des Ghettos zu sperren; wo unsere wichtigste Sorge — Arbeitslosigkeit, Bewegungsfreiheit in Europa, Chancengleichheit — marginalisiert bleiben wird. Sie glauben vielleicht, Sie stünden mit einem Bein in einer anderen Heimat. Die meisten von uns haben keine solche Wahl. Unsere Heimat ist hier. Schließen Sie sich uns an. Oder lassen Sie uns die Freiheit, eine Vision von Heimat zu realisieren, in der die Verschiedenheit nicht Verleumdung bedeutet. In der weder Sie noch ihre Gegenspieler uns einen Loyalitätstest aufzwingen können.

Zum Valentinstag gibt es zweierlei Assoziationen: Er ist ein Tag für den Austausch von Geschenken, aber er erinnert auch an das Gangstermassaker in den zwanziger Jahren in Chicago! Schließen Sie sich uns an, Mr. Liaquat Hussain, Mr. Hassan el-Fasawy, Dr. Kalim Siddique, Dr. Shabir Akthtar etc., damit die eine Bedeutung lebendig bleibt und die andere nicht Wirklichkeit werden kann.

Jatinder Verma,

24.Januar 1992

Aus dem Englischen von Meino Büning.