Grabstein mit sechs Spuren

■ Wo das Stadtbild zu wünschen übrigläßt (9): Autobahnkreuz Schöneberg

Schöneberg. Nirgendwo liegt Berlin brutaler begraben als neben dem kleinen Friedhof der Zwölf Apostel Gemeinde — Ausfahrt A 103, Schöneberger Kreuz/Sachsendamm. Sechsspurige Betonpisten in Richtung Tempelhof, Steglitz und Charlottenburg haben den Sand auf rund sechzig Hektar Fläche gleich in Schichten überdeckelt. Wer in Richtung Schöneberg abfahren muß, stößt auf einen Sackbahnhof: Sachsendamm und Ende. Eine Verkehrsspinne lauert dort, in deren Netz sich tagtäglich mehr als hunderttausend Autos im Stau verfangen. Der scheinbar unvermeidliche Knoten aus den siebziger Jahren, an dem die Verkehrsströme in dem Konglomerat von Zu- und Abfahrten abrupt abgebremst werden, gleicht einem Offenbarungseid aller mobilitätseuphorischen schwachen Geister, die zumeist in den oberen Etagen der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe herumirren.

Daß diese immer noch hoffen, mit einem Schlag den gordischen Stauknoten durchstoßen zu können, um damit die »Rote Insel« endgültig zu erledigen, sieht man daran, daß Betonplatten für die einst geplante »Westtangente« immer noch unter der Brücke am Sachsendamm lagern. Sie verwandeln den Ort zu einem zugigen Depot mitten in der Stadt. Stapelweise warten die Platten darauf, endlich aufzuerstehen, verbaut zu werden, und mit ihnen Leitplanken, Träger und Konsolen. Sie bilden den steinernen Widerhall von der Mär, die Westtangente sei gestorben: Gebuddelt wird jetzt nicht mehr in Süd-Nord-Richtung sondern vom Reichstag her. Die Straßenplatten unter der Unterführung erscheinen zugleich wie eine Betonskulptur von Wolf Vostell — Zeichen des urbanen Niedergangs und Grabsteine, die kein Leben in ihrer Nähe zulassen. Der daneben seit Jahren aufgeschüttete Erdwall, die permanente Androhung einer kommenden Baustelle, läßt sich umgekehrt auch als Abgrund hinter der Stadt lesen.

So teilt die Kreuz-Spinne dort die Stadt in tote Sektoren. Auf ihnen kontaminieren PKW-Kleinstfirmen (Auto-Reparaturwerkstätten, Schrottplätze, Tankstellen, Bosch- Dienste u.a.) die Umwelt. Als Vorhalteflächen für den Straßenbau verhinderten sie jede vernünftige Stadtentwicklung. Sie zerreißen das Feld neben der Autotrasse in tausend Stücke. Die wenigen großen städtischen Einrichtungen, wie die Schöneberger Sport- und Schwimmhalle sowie die Radrennbahn verkommen zu steinernen Sauriern, die nur zum Leben erwachen, wenn Veranstaltungen Besucher anlocken. Natürlich gibt es Pläne, den nomadenhaften Charakter der Stadt dort mit Dienstleistungstürmen zu entschärfen — welch ein Einfall! Er setzte die Entwicklung fort, die die Ecke so fatal zerstört. Das Quartier verkäme mehr noch zu einem isolierten Satellit für Motorisierte. Wirklichem Mut entspräche, den Flächennutzungsplan zu ändern, das Verkehrsnetz dort zurückzubauen, die angesetzten Durchstiche zu schließen und der Stadt ein Gebiet für Urbanität zurückzugeben. Die halbfertige Autobahn gehört verbannt. Das offene Grab katastrophaler Stadtplanung muß geschlossen werden. Rolf R. Lautenschläger