Das wachsende Ozonloch in der Berliner Politik

■ Zur Debatte: Eine Politik ist weltfremd, wenn sie an den Brandzeichen eines unbarmherziger werdenden Himmels vorbeisieht

Die Warnzeichen der Kassandra stießen selbst dann noch auf taube Ohren, als das hölzerne Pferd schon in Trojas Mauern stand. Ähnlich ergeht es rund 3.000 Jahre später den NASA-Forschern, die am 3. Februar 1992 wegen der unerwartet hohen Ozonstörungen in den nördlichen Erdatmosphären Alarm schlugen. Die Ohren, zumindest des Berliner Publikums, sind, wenn nicht taub, so doch auf Durchzug gestellt. Die Meldungen dazu rückten schon am übernächsten Tag in die Rubriken »Aus aller Welt« ab; in den Gesprächen, die ich erlebt, blieben sie ein Randthema aus dem üblichen ökologischen Gruselkabinett.

Dem wachsenden Ozonloch über uns entspricht eine fortschreitende Verdrängungsleistung in uns. Zumindest das gebildete Publikum liest und sieht seit Jahren über die Folgen dieser größten Chemiekatastrophe, deren absehbarer Beginn immerhin seit 1974 bekannt ist, hinweg. Die Trojaner blieben taub, während sie das Pferd noch aus ihren Mauern schaffen konnten, wir legen uns dann noch aufs Ohr, wenn das Unheil über uns bereits im vollen Gange ist.

Unter diesen Umständen stärker die Alarmsirenen aufzudrehen, hilft vermutlich nicht weiter. Vielleicht haben die NASA-Forscher auch zu laut geheult mit ihrer Voraussage, daß schon in der nächsten Woche der Ozonschild vom Nordkap bis zum Main um 30 Prozent ausgedünnt wird. Vielleicht beginnt vorerst kein breitflächiges Absterben pflanzlichen Planktons im Nordmeer, was unabsehbare Folgen auf die Nahrungskette der Ozeane hätte und die Erderwärmung noch beschleunigt. Vielleicht dauert es noch, bis Getreide und Gemüse unter dem Dauerbombardement von UV-Strahlen weniger wächst und somit die mageren Jahre auch in Westeuropa, Japan und Nordamerika anbrechen.

Vielleicht — vielleicht auch nicht. Mich tröstet die Ungewißheit überhaupt nicht. Die Treibgase und Treibhausgase des Industriezeitalters haben den Himmel über uns unberechenbar gemacht. Die neuen Unwägbarkeiten des Himmels aber haben wir bisher kaum begriffen. Erst recht nicht im unruhigen Berlin, das »gegenwärtig andere Probleme hat«. Die Große Koalition streitet sich über die Einstellung einer Richterin mit PDS-Parteibuch, das Parlament wird demnächst über die zweifellos brennende Frage der Massenarbeitslosigkeit diskutieren. Das wachsende Ozonloch bleibt weiter ins Vorzimmer der unangenehmen Horrormeldungen verbannt. Der Stadtpolitik gilt es nicht wirklich als brennende Frage, obwohl es doch Leben verbrennen kann.

Die Verantwortung für das wachsende Ozonloch kann nicht delegiert werden. Die Berliner Politik muß einen Sofortausstieg aus der tödlichen Treibgas-Chemie fordern, dazu in Bonn und Brüssel intervenieren, das zum Thema jedes Staats- und Städte- Kontakts machen. Auch in den eigenen Grenzen hat die Stadt einiges zu tun. Sofort muß alles FCKW und die noch gefährlicheren Halone aus ausrangierten Geräten vollständig aufgefangen und neutralisiert werden. Bis heute passiert das nur bei einem kleinen Teil der alten Kühlschränke. Ausnahmen von FCKW-Verboten, die die löchrige Rechtsverordnung des Bundes zuläßt, darf es in Berlin nicht geben. Schließlich sind die 23 neuen Umweltämter der Bezirke gefragt, ein striktes Verbot der Treibgase in allen Betrieben Berlins durchzusetzen. Immerhin haben die Metallbetriebe und chemischen Reinigungen im Westteil noch 160 Tonnen FCKW in die Luft geblasen. Ein Alptraum ist, wenn Eltern in diesem Frühjahr — oder in einem kommenden — ihre Kinder vom Spiel in der Sonne abhalten. Eltern, die fürchten müssen, daß ihre Kinder nach zwei Stunden Brandblasen auf der Haut und in zehn Jahren den Grauen Star im Auge haben. Seit Menschengedenken gilt die Sonne der gemäßigten Zonen als Lebensspenderin und Wärmestifterin. Wenn wir sie als tödliches Hautgift wahrnehmen sollten, wird das unsere Kultur mehr verändern als die Dampfmaschine. Werden wir aus der unermeßlichen Vertrautheit des »Himmelszeltes« endgültig in die künstliche Höhlenwelt unserer Städte und Häuser vertrieben?

Im Trubel und in der Politik dieser Tage wirken solche Fragen leicht weltfremd. Mir wird allerdings eine Politik zunehmend fremder, die den brennenden Alltagsproblemen der Menschen nachläuft und dabei an den Brandzeichen eines unbarmherziger werdenden Himmels vorbeisieht. Hartwig Berger

Der Autor ist Mitglied des

Abgeordnetenhauses für

Bündnis 90/Grüne.