Martin Walser:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Sehr geehrter

Salman Rushdie,

was Sie erleben müssen, zeigt uns, wie ohnmächtig wir sind. Wir, das sind alle, die den Terror, den die monotheistische Religion produziert, verabscheuen. Gesten und Meinungen — mehr haben wir nicht. Die monotheistische Religion hat immer Täter, Mörder also und Folterer. Die monotheistische Religion hat immer die Wahrheit. Aber diese Wahrheit braucht zu ihrer Erhaltung und Propagierung offenbar den Terror. Noch keine monotheistische Religion hat auf Terror verzichtet. Auch der Marxismus nicht, diese letzte Ausgeburt des monotheistischen Denkens.

Können wir gar nichts tun? Helfen vielleicht Boykotte? Ich glaube, Boykotte verwandeln das Lager des Fundamentalismus in eine Festung. Es ist zweifellos befriedigender, von der ganzen Welt einen Boykott des fundamentalistisch regierten Staates zu fordern, als einzugestehen, daß man ohnmächtig ist. Ich halte es nicht für eine Schande, mit den fundamentalistischen Terroristen im Gespräch zu bleiben. Könnte es nicht sein, daß Sony, IBM und Siemens dem Monotheismus auf die Dauer gefährlicher werden als unsere Gesten und Meinungen? Das heißt nicht, daß wir auf unsere Gesten und Meinungen verzichten können, auch wenn wir in Gesten und Meinungen vor allem unsere Ohnmacht erleben. Ich kann meine Ohmacht nicht dadurch erträglicher machen, daß ich andere beschuldige, dem fundamentalistischen Terrorismus gegenüber nicht richtig operiert zu haben. Ich weiß nicht, welches Mittel das beste ist gegen den Terror der Wahrheitsbesitzer. Und weil ich das beste Mittel nicht kenne, möchte ich auf keines verzichten. Auch nicht auf Sony, IBM und Siemens. Ich verstehe, daß Sie, sehr geehrter Herr Rushdie, durch Ihr Bekenntnis zum Islam ein Zeichen geben wollten. Das war eine große Geste. Vielleicht bewirkt sie doch noch etwas im Lager der Wahrheitsbesitzer. Ich meine, daß der Prozeß auf dieser Erde gegen die monotheistische Religion verläuft. Gegen den Wahrheitsbesitz. Gegen den Fundamentalismus. Es scheint aber so, daß die Ungleichzeitigkeit der Kulturen sich zur Zeit verschärft. Der Westen hat offenbar mit seinen politischen und kulturellen Anmaßungen zur Verstärkung des Fundamentalismus beigetragen. So wie der verlogene Internationalismus des Marxismus eine grelle Spur von Nationalismen hinterläßt.

Wahrheitsbesitzer kann man nicht bekämpfen. Man kann allenfalls versuchen, ihnen vorzuleben, wie es ist, ohne Wahrheit zu leben. Man kann nicht rechthaben. Man kann nichts besser wissen. Ich würde die Fundamentalisten immer zu jeder Buchmesse dieser Welt einladen. Mir kommt es vor, als nütze dem Fundamentalismus nichts so sehr wie die Einschließung und Ausgrenzung. Festung zu sein, Belagerungszustand, überhaupt Kriegsartiges, das muß ihm nützen. Ich würde immer und überall das Gespräch mit Fundamentalisten suchen. Ich würde ihnen jede Menge Sony und IBM verkaufen. Ich habe als Kind mit Hilfe einer Taschenlampe unter der Bettdecke verbotene Bücher gelesen. Das spricht für Sony und IBM und Siemens. Wir leben alle in und von irgendeinem Glauben. Aber es darf kein Glaube besser sein als ein anderer. Der letzte Feind des Friedens ist der Monotheismus. Daß man sich einer Art, die Welt zu erklären, anschließen soll, führt zum Terror. Wir können nicht darauf verzichten, diesem Terror mit Meinungen und Gesten zu antworten.

Ich kann mir keinen Schriftsteller denken, der sich jetzt nicht mit Ihnen, sehr geehrter Salman Rushdie, solidarisch empfände. Es gibt zur Zeit keinen Schriftsteller auf dieser Erde, dem alle anderen sich so verbunden fühlen wie Ihnen. In Ihnen kommt unsere Ohmacht grell zum Ausdruck. Dafür genieren wir uns. Wir möchten etwas tun, wir müßten etwas tun — und wir haben Meinungen und Gesten. Sie, sehr geehrter Salman Rushdie, finden bei jedem von uns Heimstatt, wenn Sie das brauchen. Ich biete Ihnen jederzeit Unterkunft an bei mir. Sie sind herzlich willkommen.

Solange Sie bedroht sind, müssen wir aber auch unsere einzige Kraft für Sie mobilisieren: Öffentlichkeit. Dieser Kraft war bis jetzt noch kein Fundamentalismus gewachsen. Nicht in Rom und nicht in Moskau.

Der 14.Februar soll der Fatwa- Tag sein. Und das Wort Fatwa soll seine bessere Herkunft einbüßen und soll das heißen, wozu es vor drei Jahren gemacht wurde: Terrorurteil. Und die fundamentalistischen Terroristen sollen sich gespiegelt sehen in einer Weltöffentlichkeit, die weit über Schriftsteller hinausreicht.

Sie werden diesen Prozeß gewinnen, sehr geehrter Salman Rushdie, so wie die Dissidenten in Osteuropa gegen die Orthodoxie des Marxismus gewonnen haben. Wir sind auf Ihrer Seite: hilfsbereit, ohnmächtig, zuversichtlich.

Mit herzlichen Grüßen,

Ihr Martin Walser