Justitias Abrißbirne schwingt langsam

Die Eigentümerin der Hafenstraßenhäuser in Hamburg versucht, die BewohnerInnen rauszuklagen  ■ Aus Hamburg Julia Kossmann

Die rund 100 Bewohnerinnen und Bewohner der Hamburger Hafenstraße sollen in Einzelverfahren aus ihren Häusern geklagt werden. Die ersten Zivilprozesse begannen in diesen Tagen. So will die städtische Hafenrand GmbH, Eigentümerin der bunten Häuser in St. Pauli, die Häuserzeile endlich zum Abriß in den Griff bekommen.

„Eine Keimzelle der Gewalt! Ein Terroristennest“, die neun besetzten Häuser an Hamburgs Hafenrand zwischen der Bernhard-Nocht- Straße und der St.-Pauli-Hafenstraße reizen seit über zehn Jahren zu Polarisationen, beleben den politischen Alltag in Hamburg und sind immer wieder sonntags eine Touristenattraktion, die zum Fischmarkt-Programm gehört. Angefangen hat alles, als Studenten, Punks und Autonome im Oktober 1981 in die heruntergekommenen Häuser zogen, die der stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft SAGA gehörten. Die ließ in dem Viertel im Schatten der Reeperbahn die Altbauten verkommen und meldete die Besetzung erst ein halbes Jahr später der Baubehörde. Im Oktober 1982 versprach der damalige Bausenator den Bewohnern, daß die Häuser, bis auf drei, renoviert werden sollten. Im November 1983 schloß die Stadt Mietverträge mit den Besetzern und Besetzerinnen, befristet bis zum 31.Dezember 1986.

Etwa ein Jahr vor dem Termin wartete der damalige Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Christian Lochte, mit der Neuigkeit auf, in der Hafenstraße liefen konspirative Fäden der RAF zusammen. Die Springer-Presse jubilierte. Tatsächlich floh auch mancher Autoknacker in die Häuser, und die Hafensträßler solidarisierten sich verläßlich mit dem Verfolgten gegen die Polizei. Im Oktober 1986 räumten vier Hundertschaften sechs Wohnungen. Zwei Monate später, kurz vor Ende der Mietverträge, demonstrierten über 10.000 für das Fortbestehen des Wohnprojekts mit der kurzen Formel: „Hafen bleibt.“ Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden auf beiden Seiten Menschen zum Teil schwer verletzt. Die Räumung wurde nach Ablauf der Mietverträge täglich erwartet. Der sozial engagierte Hamburger Millionär Jan Philip Reemtsma und der evangelische Pastor Christian Arndt versuchten zu vermitteln — und scheiterten. Um sich gegen drohende Polizeieinsätze zu schützen, begannen die Hafensträßler im Sommer mit der Befestigung ihrer Häuser mit Stacheldraht, Stahltüren und Beton. Im Oktober 1987 legte der Senat einen Pachtvertrag vor, mit der Bedingung, daß die Barrikaden abzubauen seien. Der neu gegründete Verein Hafenstraße verhandelte mit dem Hamburger Senat, und Bürgermeister Klaus von Dohnanyi gab schließlich sein Wort, daß er für die Vertragstreue des Senats bürge: „Dafür werfe ich mein Amt in die Waagschale.“ Die Befestigungen wurden abgebaut.

Doch der Vertrag enthielt eine weitere Bedingung: Wird eine Gewalttat aus einem der Häuser heraus begangen, kann dies zur Vertreibung aller Mieter führen — eine Kollektivstrafendrohung, die von Mietrechtsexperten als sittenwidrig bezeichnet wurde. Nach Abmahnungen und Durchsuchungsaktionen kündigte die Stadt den Pachtvertrag zum 8. Mai 1989.

Parallel zu den lautstarken Aktionen von Polizei und Bewohnern in der Öffentlichkeit gehen die Verfahren auf der juristischen Schiene ihren Gang durch die Instanzen. Nachdem das Oberlandesgericht in Hamburg die 1989 ausgesprochene Kündigung im November 1991 bestätigt hatte, sollen jetzt vor dem Amtsgericht Räumungstitel gegen einzelne Mieter erwirkt werden. Dabei ist besonders ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom März 1991 von Bedeutung. Der BGH hatte in bezug auf sogenannte Bauherrenmodelle entschieden, daß für Mieter eines gewerblichen Untervermieters der normale Mieterschutz gilt. 35 Räumungsklagen hat die Hafenrand GmbH beantragt, die Verhandlungen werden sich bis in den April hinziehen. Verschiedene Richter sind beteiligt. Wie sich an den ersten beiden Verhandlungstagen zeigte, sind sie durchaus unterschiedlicher Meinung, inwieweit das BGH-Urteil auf die Hafenstraße anzuwenden ist. Nachdem sich vorgestern Amtsrichter Langenberg eher ablehnend geäußert hatte, sah Amtsrichter Lüker durchaus die Anwendbarkeit des Kasseler Urteils. Beide Richter forderten allerdings die Klägerin auf, den Mangel an rechtlichen Argumenten in ihren Anträgen zu beheben.

Ob den Klagen im einzelnen stattgegeben wird oder ob sie abgewiesen werden — beide Parteien sind gewillt, gegebenenfalls in die nächste Instanz zu gehen. Um eine rechtsstaatliche Klärung zu bekommen, kann sich der Streit noch bis zum Bundesverfassungsgericht fortsetzen. Und bis dahin fließt noch eine Menge Brühe die Elbe hinunter.