„Ich rechne damit, daß Daten verschleiert wurden“

■ Die Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake über mögliche Ursachen für Leukämiehäufungen in Tespe

Ist das Atomkraftwerk Krümmel in der Elbmarsch die Ursache für das verstärkte Auftreten von Kinder-Leukämie in der Gemeinde Tespe? Die Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake hat bei den Geschwistern von sechs der an Blutkrebs erkrankten Kinder die Chromosomen in den weißen Blutkörperchen untersucht. Das Ergebnis: Die Strahlendosis der geschädigten Chromosomen war etwa doppelt so hoch wie überlicherweise zu erwarten gewesen wäre.

taz: Frau Schmitz-Feuerhake, kennen Sie Horst Jung?

Inge Schmitz-Feuerhake: Ja.

Was sagt Ihnen dieser Name?

Horst Jung ist Direktor des Strahlenbiologischen Instituts der Universität Hamburg. Ich kenne ihn privat, er ist ein Kommilitone meines verstorbenen Mannes gewesen. Und ich kenne ihn auch als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Biophysik, wo ich auch Mitglied bin.

Herr Jung hat behauptet: Ihre Vermutung, das Atomkraftwerk Krümmel sei die Ursache für das verstärkte Auftreten von Kinderkrebs, sei „völlig unsinnig“.

„Es gibt keine andere plausible Erklärung als die, daß die erhöhte Leukämierate von einer radioaktiven Strahlung ausgeht“

Wie wir wissen, ist die Wissenschaft ja hochspezialisiert, und Niederdosiseffekte sind nicht das Spezialgebiet von Herrn Jung. Er hat darüber nicht publiziert. Aber er fühlt sich offenbar jetzt berufen, in die Debatte einzugreifen. Er ist mit diesen Leukämien in Sittensen und Tespe nicht befaßt gewesen. Kennt also gar nicht den Untersuchungsstand und das, was da alles gamacht worden ist.

Haben Sie nach seiner öffentlichen Kritik schon wieder mit ihm gesprochen?

Ich habe mit ihm eine Fernsehdiskussion gehabt. er hat mich nie nach diesen Ergebnissen gefragt, und ich habe sie mit ihm nicht besprochen. Was die Ergebnisse bei

Das Atomkraftwerk Krümmel in der Elbmarsch steht im Verdacht, der Verursacher für Kinderkrebs zu seinFoto: Diah

den Leukämiefällen in Tespe angeht, habe ich auch immer gesagt, daß das ein vorläufiger Befund ist, der in seiner Beschränktheit derzeit noch keine Handhabe bereitet, eine Strahlenbelastung nachzuweisen. Ich meine aber, daß es keine andere plausible Erklärung gibt als die, daß die erhöhte Leukämierate von einer nuklearen Strahlung ausgeht.

Wie lautet ihre These bei dem aktuellen Forschungsstand?

Leukämie und besonders Leukämie im Kindesalter wird typischerweise durch ionisierende Strahlung ausgelöst. Das ist seit langem bekannt und an vielen Beispielen gezeigt worden. Und gerade im Niederdosisbereich sind Leukämien als Folge einer Bestrahlung gefunden worden: Also nach diagnostischer Röntgenbestrahlung, nach radioaktivem Fallout, und natürlich auch in Hiroshima und Nagasaki in den Niederdosisgruppen. Immer dann, wenn man eine Leukämieerhöhung sieht, forscht oder fragt man erst einmal nach einer Strahlenursache. Chemische Ursachen für Leukämie sind seltener. Es gibt nur wenige Stoffe, von denen

hier bitte

das Foto vom

AKW auf der

anderen Uferseite

man glaubt, daß sie Leukämie hervorrufen, eigentlich nur Benzol. In Tespe, einer Gemeinde, die gegenüber dem AKW Krümmel und dem nuklearen Forschungszentrum GKSS (Gesellschaft für Kernenergie in Schiffbau- und Schiffahrt) liegt, ist die Leukämieerhöhung sehr drastisch.

„Der Zeitpunkt der Bestrahlung korreliert auffällig mit dem Betriebsbeginn des Atomkraftwerkes in Krümmel und mit einem ominösen Jod-Unfall in der GKSS“

Wir haben hier einen sehr großen Effekt, rein quantitativ, etwa eine fünfzehnfache Erhöhung. Und die ist eigentlich nicht anders erklärbar als durch ionisierende Strahlung. Es ist deshalb naheliegend, bei den Verursachern an kerntechnische Anlagen zu denken.

Welche Ursachen könnte es theoretisch noch geben?

Wir mußten noch untersuchen, daß es keine Röntgenbelastung ist. Das käme ja noch in Frage. das haben wir ja gerade in Sittensen gezeigt. Das ist hier aber nicht der Fall. Daß es nicht die Väter dieser Kinder sind, die in den Anlagen gearbeitet haben, wurde in Tespe an der Elbmarsch auch schon geprüft. In England wurde das als Ursache für eine Leukämieerhöhung um die Wiederaufarbeitungsanlage in Sellafield herausgearbeitet. Es bleibt: Man muß den Verdacht haben, daß dort in Tespe radioaktive Kontaminationen vorgelegen haben.

Herr Jung macht den Zufall für die Häufung von Kinderkrebs verantwortlich.

Das ist ganz absurd. Zufällige Häufungen sind bei sehr konstanten Leukämiewerten sehr selten. Warum sollte es bei einer geringen Wahrscheinlichkeit auch noch gerade in der Nähe von Atomkraftwerken zu Leukämiehäufungen kommen? Es sind ja mittlerweile auch mehrere Kernkraftwerke in Verdacht geraten, in England gleich an mehreren

Standorten, und 1984 auch hier in der Bundesrepublik in Würgassen.

Warum aber dann in Krümmel, und nicht auch in Stade, Esenshamm, Lingen...

Das ist eigentlich ganz logisch, weil es unterschiedlich sauber arbeitende Kernkraftwerke gibt. Der Standort ist ja nicht entscheidend, sondern das, was da heraus

„Wir müssen nach der Strahlenbelastung in der Vergangenheit fragen“

kommt. Und deshalb ist unsere Forderung, nach der Strahlenbelastung in der Vergangenheit zu fragen. Diese Leukämiefälle in der Elbmarsch traten alle erst seit Ende 1989 auf. Wir haben hier einen sehr scharfen Anstieg der Rate in relativ kurzer Zeit. Das ist ein weiterer Hinweis für Bestrahlung. Man kennt die Latenzzeiten nach einer Bestrahlung, also die Zeit, nach der der Schaden auftritt. Für Leukämie beträgt diese Latenzzeit etwa sechs Jahre, und etwa sechs Jahre nach einer Bestrahlung tritt die maximale Rate an kindlichen Leukämien auf. In diesem Fall korreliert es mit dem Betriebsbeginn von Krümmel, der im September 1983 war, und mit einem ominösen Jod-Unfall in der GKSS. Der langen Rede kurzer Sinn: Jedem, der ein bißchen was weiß über Strahlendefekte, ist klar, daß der naheliegende Verdacht in diesem Fall Radioaktivität ist. Es genügt nicht, heute zu gucken, wieviel Radioaktivität in der Umgebung von Krümmel und der GKSS ist. Das ist gemacht worden, da gibt es keine Auffälligkeiten, denn die Ursachen werden zeitlich etwas zurückliegen. Wenn es eine Emission war, dann liegt sie von heute aus gesehen etwa acht Jahre zurück, wenn es mehrere waren, dann muß man ab 1983 suchen.

„Es ist nicht vorstellbar, daß es der genehmigte Normalbetrieb war. Das ist auszuschließen.“

Was raten Sie den Menschen in Tespe?

Da wir im Moment übersehen, daß keine Radioaktivitätsbelastung vorliegt, und sich gerade jetzt die Betriebe hüten werden, unsauber zu arbeiten, kann man sagen: Das, was passiert ist, ist nicht mehr zu ändern. Ich denke, man kann dort wohnen bleiben, aber auch fordern, daß der Sache nachgegangen wird.

Das unterstellt, daß die Radioaktivität in Wissen und Kenntnis der Bertreiber und also illegal, weil nicht gemeldet, ausgetreten ist.

Ja und nein. Es könnte ja Belastungspfade geben, die in den üblichen Annahmen noch nicht unterstellt worden sind. Krümmel ist der größte Siedewasser-Reaktor, den wir haben. Man hat vielleicht ein paar Dinge übersehen, ich weiß es einfach nicht. Ich rechne damit, daß Daten verschleiert worden sind. Es ist nicht vorstellbar, daß es der genehmigte Normalbetrieb war, das ist auszuschließen.

Fragen: Markus Daschner