Das Schwein, die Würde und die Berliner Justiz

■ Kampagne von Boulevardpresse und Justizverwaltung gegen einen „furchtbaren Juristen“ im Mielke-Prozeß

Einer der Verteidiger von Erich Mielke ist Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger aus Ostberlin. Sein Kollege Wolfgang Vogel hatte ihm den Fall übergeben. Wetzenstein, Jahrgang 1942, verteidigt mit Engagement. Er stammt aus Bayern, ging nach seiner Druckerlehre offenbar aus politischer Überzeugung in die DDR, studierte dort. Später wurde er Richter und dann Direktor am Bezirksgericht Berlin-Lichtenberg, zweifelsohne eine hochgradig politisierte Funktion im Rahmen der sogenannten „sozialistischen Gesetzlichkeit“. Wetzenstein hat politische Urteile, unter anderem das gegen Vera Wollenberger, auf dem Gewissen, er hat, so sagen es die Beteiligten, mit Schärfe verhandelt. Aber 1988 beantragte er, ungewöhnlich genug, die Entpflichtung von seinem Richteramt; dem wurde nach einigen Schwierigkeiten im März 1989 stattgegeben. Seither, und nicht erst seit der Wende, ist er Anwalt. Die Biographie des Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger könnte komplizierter sein, als es die Agentur 'ap‘ gestern in einem eilig zusammengebastelten Ticker verbreitete. Überschrift: „Aus ,furchtbaren DDR-Richtern‘ wurden demokratische Advokaten.“

Nach der 80-minütigen Hauptverhandlung am letzten Montag wurde Wetzenstein von seiner Vergangenheit als DDR-Richter eingeholt, die Szene zum Tribunal. „Du Schwein, verdammtes Schwein du, ich krieg dich!“, rief die 30jährige Kornelia Voigt, zerrte ihn an Krawatte und Revers. Mit kommandogewohnter Stimme rief Wetzenstein, der auf jede Gegenwehr verzichtete, „Wachtmeister! Wachtmeister!“ und wurde aus den heiligen Moabiter Hallen herauseskortiert. Die junge Frau hatte auf ihre Weise Recht. Die Berliner Boulevard-Presse war dankbar, erlaubte ihr doch die Aktion Ablenkung von eher langweiliger, höchst fragwürdiger Moabiter Nazi-Nostalgie. „Gestern beim Mielke-Prozeß“, schrieb 'Super‘, „hat eine zierliche kleine Frau (1,50 m) getan, was Millionen nachempfinden können: Sie hat einen Großen des SED-Regimes, einen Stasi-Richter, verprügelt. Sie wurde von eben diesem Stasi-Richter als 16jährige zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt.“ Laut 'BZ‘ fragte „Kornelia“: „Warum darf so ein Mann immer noch Anwalt sein?“

Die Berliner Justizsenatorin, die es selbstverständlich ablehnt, sich zu schwebenden Verfahren per Interview einzumischen, reagierte prompt. Vor drei Tagen erhielt Wetzenstein ein Schreiben ihrer Verwaltung — „Vertraulich! Verschlossen!“ — „Betr.: Rücknahme der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“. Wegen Wetzensteins „langjähriger Tätigkeit in gehobener Stellung in der Justiz der früheren DDR“ bestehe „Veranlassung zu einer Prüfung“, ob seine „Zulassung zur Rechtsanwaltschaft mit Wirkung für die Zukunft“ zurückzunehmen“ sei. Nach dem Einigungsvertrag werden ostdeutsche Anwälte, die vor der Wiedervereinigung und gar vor der Wende ihre Zulassung erhielten, nicht überprüft. Bleibt der vage Begriff der „Würdigkeit“, der für alle Anwälte zu gelten hätte. Aber da hatte die Berliner Justizverwaltung stets Verständnis. Beispielsweise war jahrzehntelang Dietrich Scheid der prominenteste Anwalt dieser Stadt. Dieses bis zu seinem Tode 1988 stets „würdige“ Mitglied der Berliner Anwaltskammer meldete sich 1940 freiwillig zur 5. SS-Totenkopfstandarte und war bis in den Sommer 1944 als Jurist nach Minsk in die besetzten Ostgebiete abgeordnet. 1952 ersparte ihm eine Amnestie 12 Jahre Zuchthaus.

Heute denkt man anders. Während die Berliner Justizsenatorin die „Würdigkeit“ des Mielke- Anwalts schon einmal prophylaktisch überprüfen läßt und damit objektiv politisch in ein ohnehin schon hochgradig politisiertes Verfahren eingreift — die Verteidigung Mielkes absichtsvoll schwächt —, bedauerte die Berliner Anwaltskammer gestern noch das Fehlen einer Rechtsgrundlage. Man könne heute noch nichts gegen die „furchtbaren Juristen“ unternehmen. Allerdings liege in Bonn ein Gesetzentwurf zur Überprüfung der Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen vor, mit dem DDR-Juristen nachträglich überprüft werden könnten. Die Kammer rechnet damit, daß dieses Gesetz in den nächsten Wochen verabschiedet wird. In diesem Zusammenhang erklärte die Justizpressesprecherin Uta Fölster zwar, daß unter 2.500 Ermittlungsverfahren gegen Juristen der ehemaligen DDR auch fünf gegen Wetzenstein anhängig seien, teilte aber über das in der letzten Woche eingeleitete Überprüfungsverfahren der Senatsverwaltung für Justiz nichts mit.

Na, bitte! Was der bundesdeutschen Justiz und dem bundesdeutschen Gesetzgeber jahrzehntelang nicht gelingen wollte, wird jetzt wahr: Was gestern Recht war, kann heute Unrecht sein. Für die Nazi-Anklage gegen Erich Mielke wird kurzfristig allerdings noch die alte Formulierung dieses Satzes gebraucht: „Was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Das sagte der Marinerichter Filbinger 1978. Und vielleicht gibt es mit dem neuen bundesrepublikanischen Rechtsbewußtsein ja auch noch die Möglichkeit, diesen wahrhaft furchtbaren Juristen auf die Anklagebank zu holen. Er ist bei bester Gesundheit, wandert regelmäßig und ist sechs Jahre jünger als Erich Mielke.

In der Nacht vom Freitag auf Samstag brachen Unbekannte in die Kanzlei Wetzensteins ein. Sie stahlen die Verfahrensakten an denen der Anwalt am Vorabend gearbeitet hatte. Heute wird gegen Erich Mielke weiterverhandelt. Götz Aly