„Allenfalls noch zwanzig Jahre Luft“

■ Nach den Szenarien des Beratungsgremiums der Industriestaaten, OECD, werden die „Wanderungsströme“ zunächst die reicheren Länder Nordwesteuropas tangieren

Mittelfristig, so Italiens Ministerium für Immigrationsfragen, sei das Szenario noch nicht sonderlich beunruhigend, „langfristig aber um so mehr“. Eine Analyse neuer Hochrechnungen der Industriestaaten-Organisation OECD hat ergeben, daß die große Migration zunächst vor allem „die anderen“ treffen wird — „die Reichen und die Superreichen“. Darunter verstehen die „weniger Reichen“ wie Italien und Spanien vor allem Deutschland, Frankreich, England und Skandinavien. Dorthin würden sich wohl „die ersten zwei bis drei Wellen“ wenden, vor allem jene aus dem Osten. Lediglich aus Albanien und dem Westen des ehemaligen Jugoslawiens erwarte Italien starke, aber kontrollierbare Wanderungsschübe.

So sehen sich die Mittelmeerländer, mit Ausnahme Frankreichs, zunächst „geschützt“: Einerseits, so die italienische Analyse, gelte im Osten eben Mitteleuropa als das „Paradies“; zweitens wiesen nur die Völker des ehemaligen Ostblocks gleichzeitig die drei Eigenschaften aus, die einen erfolgreichen Druck erwarten lassen: Sie sind hinreichend mobil, sind ausgehungert — und wissen auch mit modernen Waffen umzugehen. Der Süden — von den Mittelmeeranrainern Europas aus gesehen Afrika und Vorderasien — weise jedoch derlei „Gefahr“ derzeit noch nicht auf. Zwar ist die Einwanderung aus dem Maghreb nach Spanien, Frankreich, Italien und Griechenland beträchtlich. Regelrechter Druck ist jedoch noch nicht entstanden.

Doch das wird sich, zwangsläufig, in den kommenden drei Jahrzehnten ändern, wenn nicht früher. Denn die südlichen Mittelmeerstaaten werden bald unter massiven Druck geraten, vor allem aus dem Zentrum Schwarzafrikas. Noch weichen die Menschen beispielsweise in Mauretanien vor der sich ausbreitenden Wüste nach Süden zurück. Doch auch dort ist bald nichts mehr zu holen. Auch wächst der Widerstand aus eben diesen Ländern im Süden, weiteren Zuzug hinzunehmen. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich die Bewegung umkehrt und die Menschen weiter nach Norden drängen.

In dem Fall gibt es nach Meinung der OECD drei Möglichkeiten: Die Zentralafrikaner „überrennen mit ihren hungrigen Massen“ einzelne maghrebinische Staaten und drängen diese zur Flucht übers Mittelmeer. Oder: Die Maghrebstaaten sind inzwischen militärisch so weit aufgerüstet oder diplomatisch so erfolgreich, daß sie die Europäer zur Aufnahme einer beträchtlichen Anzahl durch die Mittelmeerstaaten durchgeschleuster Zentralafrikaner zwingen könnten.

Die dritte Variante ist eine Art Umleitung — daß die Afrikaner sich wegen der Blockade durch den Maghreb erst nach Osten wenden, sozusagen hinter den hochgerüsteten vorderasiatischen Staaten nach Norden in die sich entleerenden Gebiete des ehemaligen Ostblocks eindringen und von dort aus weiter vor nach Mitteleuropa. Wo sie von den dort noch immer starken Staaten in die unattraktiveren Zonen abgeleitet würden, also wieder ans Mittelmeer. „Wir können also gerade noch wählen, was uns besser gefällt“, schließt die italienische Studie, „ob die Afrikaner auf dem direkten Weg oder nach einer Umleitung zu uns hereindrängen. Luft haben wir allenfalls noch für zwanzig Jahre.“ Werner Raith