Tödliches Risiko am Rande der Festung

■ Fast täglich versuchen junge Männer aus Marokko und weiter südlich gelegenen Staaten Schwarzafrikas, unentdeckt die Meeresenge von Gibraltar nach Spanien zu überqueren. Häufig werden sie bereits...

Tödliches Risiko am Rande der Festung Fast täglich versuchen junge Männer aus Marokko und weiter südlich gelegenen Staaten Schwarzafrikas, unentdeckt die Meeresenge von Gibraltar nach Spanien zu überqueren. Häufig werden sie bereits am Strand von der Guardia Civil abgegriffen. Und nicht selten endet die Flucht ins gelobte Land am Rande der Festung Europa mit dem Tod.

Am weißen Strand von Tarifa schwappen die Wellen in eine Barke. Vor zwei Wochen ist sie hier gestrandet, Wind und Wasser haben sie schon halb mit Sand gefüllt. Wenige Meter landeinwärts, dort, wo die Sträucher beginnen, liegen verstreut ein Paar braune Männerhosen, ein kariertes Hemd, Socken; ein Stückchen weiter die Kleidung eines anderes Mannes, schon halb mit Sand zugeweht. Von diesem Strand aus kann man bei gutem Wetter den afrikanischen Kontinent sehen, nachts die Lichter der marokkanischen Dörfer. Von Tarifa ist es nicht weit — knapp vierzehn Kilometer übers Meer nach Afrika.

Von dort sind sie gekommen, die etwa 25 Menschen in der Barke, die nun am Strand in den Wellen hin- und herdümpelt. Junge Männer aus Marokko und Schwarzafrika, die vor Hunger und Bürgerkrieg nach Europa flüchten wollten. Für den legalen Weg in die Festung Europa benötigen sie seit Mai 1991 ein Visum— was nur ausgestellt wird, wenn ein Rückfahrticket und umgerechnet rund 100 Mark pro geplantem Aufenthaltstag in Spanien vorgelegt werden können — für die meisten ein aussichtsloses Unterfangen. An einem Strand auf der anderen Seite der Meeresenge von Gibraltar hat jeder von ihnen schätzungsweise 1.000DM bezahlt, den Lohn mehrerer Monate, und sich, mit einem Bündel Kleider und einer Flasche Wasser versehen, in einer nicht allzuhellen Nacht in das Bötchen gequetscht.

Kurz nach Mitternacht ging die Fahrt vermutlich los. Von weitem wiesen der Leuchtturm von Tarifa und die angestrahlte Tankstelle an der Straße nach Cadiz den Weg. Am frühen Morgen erreichten sie den Strand Los Lances hinter Tarifa. Eine Welle setzte wohl die Barke unvermutet auf Sand, und der Eigentümer mußte mit den Immigranten an Land waten, statt die Rückfahrt anzutreten. Am Strand trockene Klamotten anziehen und sich ein paar Stunden im nahegelegenen Pinienwäldchen verstecken. Wer schlau war, schlich sich durch das unwegsame Gelände entlang der Landstraße nach Cadiz oder Malaga fort. Viele waren es — auch diesmal — nicht. Zehn wurden am Morgen von einer Streife der Guardia Civil festgenommen, als sie, an ihren dunklen Gesichtern von weitem zu erkennen, auf der Landstraße dahinmarschierten. „Manchmal kommen sie völlig ausgehungert und durchnäßt zu uns und bitten um Hilfe“, sagt der Besitzer eines Campings am Strand. „Wir geben ihnen was zu essen und trockene Kleidung. Das sind doch arme Schlucker, denen man helfen muß. Es hat schließlich jeder ein Recht, satt zu werden. Nur hierbleiben können sie nicht — es gibt zu viele Kontrollen der Guardia Civil.“

Nur selten werden die „ilegales“ verpfiffen, wenn sie, häufig noch patschnaß, auf ihrem Weg gen Norden gesehen werden. Die meisten bieten in den Plantagen von Almeria, aus denen die ersten Erdbeeren nach Deutschland kommen, in den Feldern Kataloniens oder als fliegende Händler in Madrid und Barcelona ihre Arbeitskraft an. Viele wollen ohnehin weiter — nach Frankreich oder Belgien, wo sie häufig bereits Kontakte haben und Arbeit zu finden hoffen. Hier in Andalusien haben die Menschen die Jahrzehnte des Hungers und der Emigration noch zu gut im Gedächtnis, als daß sie kein Verständnis für die Immigranten aus Afrika hätten. Selbst die Guardia-Civil-Streifen drückten manchmal ein Auge zu, versichern Anwohner des Strands bei Tarifa, wo die meisten von ihnen ankommen.

Die Guardia Civil ist für den Grenzschutz zu Lande verantwortlich. Ihren Patrouillen gehen die meisten illegalen Immigranten ins Netz. Wenn sich ein Mensch mit dunkler Hautfarbe nicht ausweisen kann, wird er zur Kommandantur in Algeciras gefahren. Dort wird versucht, seine Identität zu ermitteln. Marokkaner werden kurzerhand zurückverschifft. Was in Marokko mit ihnen geschieht, scheint unklar. „Es heißt, daß manche regelrecht verschwinden“, erklärt ein örtlicher Journalist. Afrikaner, die ihr Herkunftsland nicht preisgeben wollen und keine Papiere mit sich führen, können maximal 40 Tage festgehalten werden, während die spanischen Behörden versuchen, ihre Identität festzustellen.

Bislang werden sie in den Zellen des Polizeikommissariats in Algeciras festgehalten — eine ungesetzliche Lösung, denn da sie nicht wegen eines Delikts festgenommen sind, dürfen sie nur „verwahrt“ werden. In Tarifa wird zur Zeit ein Hafengebäude als „Verwahrzentrum“ eingerichtet, in Algeciras soll ein neues Zentrum errichtet werden — vorgesehene Kapazität: 100 Personen. Wessen Identität auch nach 14 Tagen nicht festgestellt werden konnte, der hatte bislang Glück: Er mußte auf freien Fuß gesetzt werden. Das soll sich freilich ändern: In Kürze wird ein Abkommen mit Marokko unterschrieben werden, das das Land verpflichtet, alle diejenigen wieder aufzunehmen, die von Marokko aus illegal nach Spanien eingereist sind. Der Schwarze Peter der Kontrolle liegt dann bei den Marokkanern.

Nicht nur in solchen Nußschalen überqueren die Immigranten die Meeresenge von Gibraltar. Im Hafen von Algeciras, wo die Fährschiffe aus Ceuta und Tanger anlegen, durchsucht die Guardia Civil auch Fahrzeuge nach Drogen und Menschen. „Hier, auf den Achsen, liegen sie häufig.“ Leutnant Marin deutet unter einen Laster. „Oder hier, im Hohlraum neben dem Gepäckraum der Busse.“ Ein Kollege schlägt unterdessen die Plane eines Lastwagens hoch. Über den Leitplanken der Ladefläche taucht plötzlich der Kopf eines jungen Schwarzen auf. Unter der Ladung wird kurz darauf noch ein zweiter aufgestöbert. Die lange Reise aus Angola nach Europa nimmt hier, am Rande der Festung, ein jähes Ende.

„Ich weiß nicht, ob das richtig ist, was wir hier machen“, sagt nachdenklich Oberstleutnant Jorge Ortiz, der Chef der Guardia Civil in diesem Gebiet. 263 Illegale haben seine Leute 1990 abgegriffen, 1991 waren es bereits 842. „Die Lösung ist sicher nicht, diese armen Kerle einfach wieder zurückzuverfrachten in die Armut. Wir tun das nicht gerne. Aber wir sind dazu verpflichtet.“

Die Guardia Civil findet die Grenzüberschreiter nicht immer lebendig auf. Allein 1991 gelangten neun Menschen tot in das „gelobte Land“. Einer hatte in einem leeren Container die Reise über das Meer angetreten. Der wurde verschlossen und monatelang an einem entlegenen Teil des Hafens von Algeciras abgestellt. Als er wieder beladen werden sollte, kam das grauenhaft entstellte Gesicht des jungen Afrikaners zum Vorschein. In seinem Magen wurden Reste von Stroh gefunden — das einzige, was sich im Container befunden hatte. Auch lassen die Strömungen in der Meeresenge von Gibraltar die völlig überladenen Boote immer wieder kentern. Wie am Donnerstag vorletzter Woche. Die aufgedunsenen Körper der Ertrunkenen werden Tage später am Strand angeschwemmt — unter dem Leuchtturm von Tarifa, dem blinkenden Symbol für eine bessere Zukunft. Antje Bauer, Tarifa